Die erste Kastanie wanderte wie immer in Dembowskis Brusttasche. Als Glücksbringer, als Schutz vor der Kälte des Winters, die sich in nur wenigen Wochen wieder über die Stadt legen würde. September, ein weiterer Abschied. Ein weiteres Jahr. Und Dembowski machte sich Sorgen. Besonders die zunehmende Kontinentalplattenverschiebung empfand er als bedrohlich.
Die erste Kastanie gesellte sich zu den ersten Kastanien der Jahre 2009, 2010, 2011, 2012 und 2013. Er hatte sie jeweils im Laufe des Winters, am ersten Unglückstag eines jeden Winters markiert. Sollte er die 2014er schon jetzt markieren?
Während es die Zugezogenen in diesen Tagen meist in Richtung Uferstraße zog, an den Rand des Kiezes, dort, wo ein neues Maybachufer entstand, brachte der Ermittler diese Kraft schon lange nicht mehr auf. Hin und wieder durchzuckte ihn der Widerstand, dann lehnte er sich kurz auf, nörgelte, schimpfte, schrie und, wenn er nüchtern war, was immer seltener der Fall war, versuchte er zu argumentieren.
Doch es war einsam geworden um den dereinst so beliebten Ermittler. Klar, im Präbel Eck hatte er einen Deckel, im Soldiner Eck hatte er Schill in der Hand, im F war der Vogel aus Dortmund. Aber war das alles? War er dazu verurteilt, seine Tage in Eckkneipe zu sitzen, und zu trinken? Was war mit der Lamafarm? (Dembowski, Du warst so frei!). Wieso war er nicht bei Dörte? (Dembowski! Man fürchtet sich nicht vor Glück!).  Wieso ließ er sich so hängen? (Dembowski! Oh, Dembowski!).

I’m heading straight where I never go. There’s no more hiding in these folios. Each page has know what the first one showed. There’re still three more hours of sunlight.
Er hatte sie mit seinen Geschichten gelangweilt, und er konnten ihnen keine Angst mehr machen. Sie war weitergewandert. Er bekam es nur am Rande mit. In den Schlagzeilen, und dann, wenn er sich am nächsten Morgen noch an den Abend davor erinnerte. Der europäische Herbst war eingeläutet, auf die lähmende Sommerhitze, wie zukünftige Historiker bereits in Abwesenheit ihres klaren Verstands notiert hatten, folgte das Kriegsgebrüll. Das, musste sogar Dembowski zugeben, zog mehr als seine alten Geschichten, die eben nichts weiter waren als alt. Er konnte sie auch nicht mehr hören.
„Wo bricht gerade der Weltkrieg aus?“, fragte er dann interessiert, in der Hoffnung auf ein Freigetränk. Die Schauplätze änderten sich, die Angst blieb. Das Desinteresse an Dembowski auch. An manchen Tagen dieser Woche sah man den Ermittler mit einem Notizblock über die Badstraße spazieren. Hin und wieder kritzelte er Nebensächlichkeiten auf die Blätter, die er immer schneller weiterblätterte. Dann verharrte er, strich sich durch die Haare. Und stand wie verwurzelt vor einem der Dönerläden.
Er stand und blickte stumm, zog wieder nur Ärger auf sich. „Alter, was guckst Du?“, fragte ihn einer der Salafistenbärte am Luisenbad (Doch waren es wirklich Salafisten?). Er trug sein altes Broken Social Scene-Shirt. Jedes Loch signalisierte ein Jahr. Es waren Jahre des Schmerzes. Und, ja, es war aufwärts gegangen, doch der Schmerz trieb ihn an.
Einmal hatte jemand gefragt:
„Wie wollen Sie leben, Dembowski?“
„In der Dunkelheit!“ hatte er geantwortet.
Das war in der Erdgeschosswohnung. Weit bevor sich die Dinge veränderten. Doch die letzten Jahre hatten ihn nicht verändert. (Aber bist Du nicht glücklich mit Dörte, Dembowski?). So sehr er es auch gewollt hatte. (Du hast es nie probiert, Ermittler!)  
Hatte das der Suff aus ihm gemacht? Vielleicht.
Doch was, wenn Menschen sich nie verändern, wenn sie nur äußerlich eine anderes, ein älteres Ich annehmen. Dembowski hatte keine Ahnung, und, das beunruhigte ihn noch mehr, der Ermittler, der Held so zahlreicher Geschichten, war ohne Job. (Aber Du hast doch DerSamstag!). Die Kagawa-Geschichte hatte ihm den Rest gegeben, denn, er wollte es nicht verstehen, aber er musste es lernen, Marketing ist dann gutes Marketing und somit legitimes Marketing, wenn es die Interessen der Zielgruppe insofern berührt, als das ein Nebeneffekt, die Rückkehr, den Menschen etwas bedeutete, sie abholte, und sie mitnahm auf eine Reise durch die vielfältigen Möglichkeiten der Zukunft. Sie war, das versprach ihnen der Transfer: Verheißungsvoll. Und genau daran war er gescheitert. Er war zu müde, um Visionen noch als Visionen zu erkennen. (Willst Du nicht zurück auf die Lamafarm, trauriger Held?)
Jetzt hatte er Justin Hagenberg-Scholz ins Präbel Eck eingeladen. „Dit wahre Berlin“. Er wollte es ihm zeigen. Doch, noch zitternd von den Salafistenbärten, vielleicht auch zitternd vor Durst, versäumte der neue Protagonist seiner erbarmungswürdigen Existenz es nicht, auf ein paar Sticheleien zu verzichten.
Klar, sie hatten sich schnell über den Red Bull-Krieg unterhalten. Sie waren einer Meinung. (Es waren Dortmunder!) Doch schnell ging Justin dazu über anhand einer Internet-Einschätzung und dem allgemeinen Halbwissen dieser neuen Generation, die ihm so fremd war, die Vorzüge des Kagawa-Transfers zu erläutern. Er trank, und hörte nicht zu. Manchmal schnappte er ein Wort auf, und notierte es sogleich.
„Justin! Das ist Dein Ernst? Du kannst das alles vorausplanen? Du kennst die Laufwege? Du bist Dir sicher, dass Reus den umkippenden Innenverteidiger aggressiv anrennen wird, und hinten dann Großkreutz nach seinem kalkulierten Fehlpass auf den nächsten Fehlpass lauert. Dann von halblinks den Ball Kagawa übergibt, der sich mit einer flinken Bewegung aus dem Deckungsschatten befreit hat, und daraufhin der Ball zu Immobile kommt, der jetzt, durch die flinken Schritte aus dem Deckungsschatten, die perfekte Ergänzung, das fehlende Puzzlestück, aber nur gegen tiefstehende Gegner, die im Defensivverbund mit fünf Leuten verteidigen, ist?“
„Ja!“
Dembowski. Der Zorn. Die Wut. Die Welt. Die sie ihm alle erklären wollten. (Aber Du erklärst doch auch, Dembowski!)
„Diese verdammte Spielverlagerisierung. Es kotzt mich nur noch an! Habt ihr sie nicht mehr alle!“
„Aber wenn man das Spiel…“
„Vorm Fernseher. Entschuldigung, wenn ich mich einmische, aber ich habe, wie sagt man, ähh, eher notgedrungen zugehört. Und ich muss Ihnen hier beipflichten.“ Er sprach mit dem Ermittler. Der stand auf. You win again. The Bee Gees. So many times. Die Jukebox. Der Lebensretter. Hagenberg-Scholz starrte auf sein Bier. „Wie kann man nur Schulle trinken?“
„Sie schauen Fußball vorm Fernseher!“
„Nein. Ich bin Inhaber einer Dauerkarte.“ Er legte sie auf den Tisch. „Borussia Dortmund, Südtribüne, Block 12! Einmalige Stimmung.“
„Aber kein einmaliger Blick.“
„Dafür gibt es BVB Total!“
„Doch ja. Aber…“
„Wir haben uns noch nicht vorgestellt, oder?“ (Nein, aber Dembowski war auch so glücklich!)
Er stellte sich als der Coach vor. Er trug ein René Schneider-Trikot. Rostocker Legende. „So wie ich“. Er war trinkfreudig, frisch rasiert, die Haare, kurz, zur Seite gekämmt. Er war Trainer seiner eigenen Auswahl, wie er betonte. „Ich stelle die auf, dann spielen sie.“ (In Deinem Kopf, in Deinem Kopf!).
Hagenberg-Scholz und der Coach unterhielten sich. Wieder holte Justin, denn er hatte es vorbereitet, seine Analysen aus der Tasche. Der Coach war nicht beeindruckt. Dembowski schwieg. (Aber hatte er jemals etwas gesagt?). Hagenberg-Scholz argumentiert, und der Coach redete dagegen. Es lief auf Taktikblogs hinaus. „Das Grundübel!“ warf Dembowski ein. Sie schenkten ihm kein Gehör.
Hagenberg-Scholz schwieg, und der Coach sagte:
„Unbestritten ist es so, dass sich der Fußball immer weiter entwickelt und dass die taktischen Komponenten immer bedeutsamer werden. Was zum Teil daran liegt, dass es bis vor knapp 20 Jahren noch gar keine ernsthaften taktischen Komponenten im Spiel gab. Sieht man mal von Riegel-Rudi und der einen oder anderen WM-Taktik ab. Was aber gleichzeitig andersherum immer noch so ist, ist, dass der Fußball an sich gerade weil die taktischen Komponenten gegenseitig immer verschärfter werden, immer mehr von jener Komponente lebt, die man da gemeinhin Zufall nennt. Fußball eben als solcher. Wenn wichtige Spiele, wie es bis heute der Fall ist, fast immer nur durch ein Tor mehr für den Sieger entschieden werden….“
„Wenn ich nur an Florian Meyer denke“
„… kann die Taktik wohl kaum so entscheidend gewesen sein wie der Zufall…“
„Sie haben das Spiel zerstört. Taktische Fouls. Auch ne Taktik.“
„… Ob ein Elfmeter gegen den Pfosten prallt, ein versemmelter direkter Freistoß nicht den Sieg bringt oder ein Gomez 3x alleine vor dem Torwart scheitert: mit zweieinhalb DIN-A-4-Seiten Taktikanalysen lässt sich das alles jedenfalls nicht ernsthaft begründen.“
Hagenberg-Scholz schwieg. Dembowski stand bei den letzten Worten auf dem Tisch, schrie „This is a public service announcement with guitar!”, stürzte sein Bier, sprang auf die Theke. Dirigierte den Laden. „Das hat mit Fuß, das hat mit Ball. Das hat mit Fußball nix zu tun!“
Der Coach schaute ihn an, Hagenberg-Scholz schüttelte den Kopf, ein paar Gäste (Sie kennen Dich nicht, Dembowski!) wollten handgreiflich werden, doch Dembowski sprang von der Theke, und trat aus der Tür in die Nacht. Er schaffte es bis zu Schill. „Mach auf, Bademantel!“ Schill machte auf. Er war noch einsamer.
Dann wieder: Bier und Jukebox. Und auf den Erfolg ein Kurzen. „Was ein Fatzke“, sagte er zu Schill, doch der wollte nicht zuhören. (Du wirst Dich nicht erinnern, Dembowski!). 
The New Year: Folios. Die Welt, wie sie erwacht. Dembowksi auf der Straße. Der Haustürschlüssel. Und der Moment, in dem ihm die Beine versagen. 
“I don’t think the good years I’ve got can wait . So what are we staying for?”

Der Sonnenaufgang. Der Rabe auf einem Häuserdach. Dahinter die Sonne. Ein roter Ball.