Die Tage vergingen jetzt wie im Flug. Ich saß am Ufer, Dörte saß am Ufer. Sie schaute mich an, ich schaute sie an. Die unspektakulärsten Sachen streckten sich bis in alle Ewigkeit. Nicht, dass wir viel redeten, nicht dass wir uns berührten. Wir saßen dort und – wenn wir sprachen – vergewisserten wir uns gegenseitig unserer Existenz. Um unsere Beine rannte die Dogge. Sie sprang auf meinen Schoß und landete nach zwei Stunden auf Dörtes Schoß. Manchmal bestellten wir uns noch ein Wasser, um das Schweigen zu verlängern. Und manchmal sahen wir den Ausflugsbooten auf dem Oberuckersee nach.

Die EM war in der Abgeschiedenheit des Nordostens nur eine Randnotiz. Natürlich sahen wir das Deutschland-Spiel. Eine paar Radtouristen gesellten sich zu uns auf die Seeterrasse, doch auch ihnen bedeutete das Spiel nicht viel. Als Reus zum 4-1 traf, Deutschland im Halbfinale war, sprang einer unmotiviert auf und schrie „und wir holen den Pokal“. Er erntete verständnislose Blicke, entschuldigte sich sogleich mit „irgendwer muss sich doch freuen!“. Von der fernen Landstraße drang vereinzeltes Hupen bis an die See.

Am Samstag hielt ich telefonisch Rücksprache mit Redermann. Er bedeutete mir, noch ein paar Tage versteckt zu bleiben. Der Sturm hatte sich noch nicht gelegt. Ein paar Zeitungen hatten die Geschichte der Konstrukteure aufgegriffen, ein Blatt machte mit einem Bild auf. Dort schwammen Haie in den Überresten eines Unterwasseraquariums. Es war natürlich nicht Swinemünde, doch was interessierte die Printmedien schon die Wahrheit. Die Wahrheit, die ich solange gesucht hatte, die ich nun in den Augen Dörtes erkennen konnte. Sie strahlten und ich telefonierte mit Redermann. Wir trafen die Vorbereitungen für mein Verschwinden. Sollten sie Tomasz und Winowski den Prozess machen, würde Piotr mich suchen. Es blieb ein Zeitfenster von vielleicht einer Woche, um zu verschwinden.

„Was ist mit diesem Komaroff?“, fragte mich Redermann. Ich hatte ihn ganz vergessen. „Ob der überhaupt noch lebt? Ich habe ihn in einem anderen Leben gesehen. Zu Pfingsten, auf dem OBS in Beverungen. Aber das war nicht ich, das war nicht meine Realität. Tomasz muss etwas in mein Bier getan haben.“ „Klar, die Ramones-Schiene zieht immer. Tut mir leid, jemand hat was in mein Drink getan. Aber ich glaube Dir, Dembowski. Jetzt steckst Du aber kopfüber im Schlamassel. Vielleicht kann Dich dieser Komaroff schützen? Was ist mit Dörte? Ihrem Haus in Bralitz? Da wird nie jemand nachschauen.“

Dörte lächelte mich an. Sie sang ihr eigenes Lied. „Ich bitte Dich um Verzeihung. Ich habe Dir niemals einen Lupinen-Garten versprochen.“ „Dembowski, bist Du noch dran. Was singst Du da?“ Ohne, dass es mir aufgefallen war, hatte ich eingestimmt. „So lange nur Sonnenschein, es muss auch mal Regen kommen.“ Ich verstummte, Redermann schrie: „Dembowski! Sag was. Hör auf zu singen. Das ist ja furchtbar!“ „Furchtbar ist das was Deine Ohren daraus machen. Und jetzt lass mich in Ruhe. Ich habe verstanden. Abtauchen, Auftauchen, und das am Westhafen. Und über ein Haus am Oderbruch nachdenken.“ Ich drückte Redermann weg. Er hatte mich lange genug genervt, meine Problem wurden dadurch zwar nicht geringer. Doch nachdem seine Stimme verstummt war, konnten wir endlich wieder schweigen.

Wir schwiegen als wir nebeneinander die Uferwege des Oberuckersees beschritten. Wir schwiegen als wir die am Himmel kreisenden Greifvögel beobachteten. Der Rote Milan, aus anderen Teilen des Landes längst verschwunden, kreiste über den Feldern, stürzte hin und wieder hinab und thronte bald wieder weit über uns. Wir schwiegen als wir durch Goldleistengrasfelder spazierten und wir schwiegen als wir nebeneinander auf einem Bootssteg sitzend unsere Beine ins Wasser hielten. Dabei hatten wir uns so viel zu sagen. Aber die Zeit war noch lange nicht gekommen. Es war die Nähe, die meinen Körper mit Energie füllte, die mir langsam das längst vergessene Gefühl der Liebe einpflanzte. Was sollte ich groß sagen? Jedes Wort wäre eine Verschwendung gewesen, es war das Schweigen das uns näher brachte und natürlich war es auch die Angst, etwas aus den letzten Jahren zu erfahren. Es war schon so lang. Es waren insgesamt zu viele Niederlagen gewesen.

Am Abend fand ich im Kaminzimmer eine alte Hannes Wader-Platte. Es war sein 70. Geburtstag. Wader hatte mich ein Leben lang begleitet, und jetzt in diesen Stunden der finalen Ruhe war er wieder da. „Manche Stadt, manch ein Land, manche Stunde, manchen endlos langen Tag, ließ` ich im Dunkeln hinter mir. Manche Chance, manch leeres Glas, manch ein Mädchen, daß mich, wenn ich ging vergaß`“ Dörte nahm meine Hand, strich mir mit der anderen Hand die Haare aus dem Gesicht, drückte mir ein Kuss auf die Stirn und flüsterte „dich habe ich nie vergessen, das weißt Du, das spürst Du!“

Von der Seeterrasse vernahm ich lautes Schnarchen. „Ah, Spanien spielt! Lass mal rübergehen.“ „Ok ,wenn Du willst.“ Auf der Terrasse saßen ein paar in Decken gehüllte Menschen. Sie waren in den Schlaf übergegangen. Vor ihnen standen noch halbvolle Bier- und Weingläser. Ich blickte auf den Bildschirm. Spanien 1 Frankreich 0 – 57:30 min. Die Iberer hatten es mal wieder geschafft. Sie waren die Rettung der Schlaflosen. Dörte aber war meine Rettung. „Dörte!“, ich schaute sie an „was ist nur passiert?“