Ich mach mich also auf in die Kneipe, winke Kleppo zu und zeige auf mein “100 Jahre Heimat”-Pullover. “Trägt sich super, allemal besser als “Ein Leben lang keine Schale”, du weißt schon”, rufe ich ihm zu, aber Kleppo sieht und hört mich nicht. Er steht und wartet. Starrt leer die Straße runter. Dort passiert auch nichts, nur am Ende liegt die Kneipe.
Rein da, jetzt. Aufruhe. Udo Jürgens fabuliert wirres Zeug aus den Boxen, die Tische sind gut gefüllt. Doch die Wirtin winkt mich heran. “Dembo, hast Du ne Ahnung, was mit Reiser los ist? Der sitzt da hinten in der Ecke”, sie deutet in den Nebenraum und dort auf das letzte Sofa “und unterhält sich mit der Wand. Irgendwas stimmt da nicht.” “Dass mit Reiser was nicht stimmt, war Dir aber vorher auch schon klar?” “Klar! Aber sowas habe ich noch nie erlebt. Mach Dir ein Bild, bitte, Dembo, mach Dir ein Bild.” Gut, dass ich ohnehin mit ihm verabredet bin, denke ich, nehme mir ein Pils auf die Hand mit und schaue mal, was Reiser so macht. War seine Mail am Ende doch nur ein Zeichen beginnender Umnachtung?
“Verdammte Schweine! Alle. Ihr seid nicht besser als die Wand. Da gehe ich mal wieder raus und ihr seid nicht besser als die Wand. Ihr steht und sitzt auf Euren Stühlen und schaut mich mit großen Augen an, ihr denkt Euch, was ein Spinner. Dabei habe ich nur eine Frage gestellt. Eine Frage. Das kann doch nicht so schwer sein. Eine Frage. Ich wiederhole sie gerne: “Was wollt ihr hier? Was macht ihr hier? Was soll das hier?” Keine Antwort. Keine einzige Antwort. Ihr steht und sitzt und starrt und schweigt und haltet mich für eine Spinner. Wisst Ihr überhaupt, wer ich bin? Wisst ihr überhaupt, was ich für Euch geleistet habe? Reiser! Jörg Reiser! Journalist! Ich mach Euch fertig. Alle, die ihr da sitzt und steht und starrt und schweigt und mich für einen Spinner haltet. Da war die Wand noch kommunikativer. Ich habe Euch eine Frage gestellt. Antwort? Nein, ne Antwort bekomme ich von Euch nicht. Nie. Sitzt da, schmeisst Kohle in die Jukebox, träumt von Hawaii und werdet doch nie aus Euren runtergerockten Mietwohnungen rauskommen. Der Kanal? Hör ich da der Kanal? Der schwarze Kanal! Schon einmal drin gewesen? Wart ihr schon einmal im Kanal? Könnt ihr gleich in Euren Fäkalien schwimmen. Ihr habt sie nicht mehr alle. Träumt von Hawaii und geht im Kanal schwimmen. Das ist Euer Leben. Ihr habt keine Zukunft, habt nie eine besessen. Da ist die Wand noch besser. Hier die Wand!”
Reiser steht mittlerweile mitten im Raum, hat einen der Tische bestiegen und fuchtelt wie wild mit seiner Zeitung in der Luft herum. Zeigt mal hierhin und mal dahin. Er hat den Verstand verloren, denke ich. Er muss den Verstand verloren haben, schon bevor er mich in die Kneipe geladen hat. Komplett den Verstand verloren, denke ich immer wieder. Reiser hat den Verstand verloren und steht hier in der Kneipe auf einem Tisch und hält wirre Reden von schwarzen Kanälen und Hawaii. “Was hat das mit Götze zu tun?” schreie ich durch den Raum. Reiser dreht sich um, sieht mich, springt vom Tisch und rennt auf mich zu. Aus der Jukebox tönt die März mit “Ich habe einen guten Freund gehabt”. “Hast Du Dir das Video angeschaut. Ist das nicht eine Ungeheurlichkeit? Er rennt einfach auf die Kamera zu und bittet die Aufnahmen nicht zu verwenden! Wie soll man da noch arbeiten! Dembowski”, er hämmert mir auf den Brustkorp “wir müssen da was unternehmen. So kann das nicht weitergehen. Die reden fein daher und lassen sich nichts zu Schulden kommen. Das kann so nicht weitergehen. So kann ich nicht arbeiten. Du verstehst mich, Dietfried! Du musst mich verstehen!”
Durch, denke ich, durch. Nicht nur den Verstand verloren, sondern wohl bald auch die Arbeit. Weil niemand mehr mit ihm reden will, denke ich, hat er die letzten Wochen mit der Wand geredet, sich dann gewundert, dass die Wand auch keine Antwort gibt. Er wird vorm Spiegel gestanden haben, bis der in seine Einzelteile zerbrach und wird sich immer mal wieder einen gegönnt haben. Auf den Schock lasse ich Reiser im Raum stehen und hole mir erstmal ein neues Pils. Ein echtes, gutes Pils. Schon geht das Geschrei wieder los. Reiser ist zurück auf dem Tisch, verdammt jetzt auch mich. “Und dann haben wir da noch Dembowski. Dietfried Dembowski. Ermittler, Nordstadt! Steht auf seiner Karte. Er hat mir alles zu verdanken. Er schweigt mich an, er steht da und schweigt mich an. Er hat ne Zeitung gegründet, wisst ihr das? Habt ihr das gehört? Die Konstrukteure. Iquitos-Verlag. Er nennt mich jetzt seinen Feind, dabei will er nur mein Freund sein. Er hasst meine Methoden, er wendet sie an. Er hasst mich, und kommt doch in die Kneipe, wenn ich rufe. Er verachtet uns und gründet doch eine Zeitung. Er nennt sich Konstrukteur und weiß nichts. Er redet von der Vergangenheit und wird nie in der Zukunft ankommen. Meine Damen und Herren, ich präsentiere ihnen Dietfried Dembowski. Der Abschaum der Nordstadt. Da rede ich lieber mit der Wand!”
Mittlerweile hat sich eine Menschentraube um ihn gebildet. Reiser springt von Tisch zu Tisch, zeigt von hier auf mich und von dort auf mich. Jetzt bekomme ich alles ab. Ich setze mich auf das freie Sofa und schaue den Reisersprüngen hinterher. “Reiser”, rufe ich “wenn Du alles weißt, wieso weißt Du nicht, wo Dein Verstand ist?” “Dembowski! Mit Dir bin ich noch lange nicht durch. Dich mache ich platt! Verstand. Bei Dir sicher nicht.” “Du warst noch nie da drüben, weil sie Dich nicht wollen, Reiser. Das ist es, was Dich fertigmacht. Die Konstrukteure verachten Dich und Deine Methoden. Jetzt zieht sich die Schlinge immer fester um Deinen Doppelhals. Kein Chance, buddy! Game Over. Redermann lacht Dich aus. Er muss nur Deinen Namen hören. Wenn er Dich sieht, schickt er mir gleich ne Nachricht. Reiser, wie immer eklig, wie immer verabscheuenswürdig steht dann da. Und jetzt kommst Du? Kein Sidekick, die Meisterredaktion dicht, die Nachrichten dünn. Jetzt kommst Du mit den Videos. Geschieht Dir recht” Reiser stürmt jetzt auf mich zu, zerschmettert eine Flasche an der Tischkante, richtet sie auf mich. Aus dem Hintergrund greifen ein paar Leute in seine Arme, jemand stellt ihm ein Bein, er stolpert, stürzt, haut sich die Flasche ins Bein.
Alles voller Blut, elendig suppt das Blut aus dem rechten Bein Reisers. Ich springe auf und renne weg. Ich kann kein Blut sehen, und ich kann das Geschrei nicht mehr hören. Ich renne und renne und renne bis zur Haustür, schließe auf, lasse die Türen ins Schloss fallen, schnappe mir eine Stange Ernte, zünde eine Kippe und noch eine Kippe an. Am Ende des Chaos sitze ich dann auf der Bettkante, rauche, kippe mir noch einen Whiskey rein und höre Grebe. Für immer Punk möchte ich sein. Das hatte mir damals Jörg Reiser ans Herz gelegt. Wie es ihm jetzt wohl gehen mag, was wohl mit ihm passiert war? Ich lege mich hin und schlafe für zwei Tage.