Freitags wachte ich voller Unruhe auf. Da oben auf dem Dach hatte es mich erwischt. Leider aber nicht die Erleuchtung, sondern die Erschöpfung. Immerhin Er! Die letzten Wochen vor der Winterpause gingen einfach an die Kräfte. In jedem Jahr. Gerade wenn es, wie in den letzten Jahren, vornehmlich europäische Jahre waren. Spiel auf Spiel. 17 Ligaspiele, 6 Champions League Spiele, 3 Pokalspiele, dazwischen noch die Auftritte der Löw-Elf, die mich zwar nicht interessierten, die ich aber nicht einfach ausblenden konnte.

Dazu hatte ich mich auch nicht gegen die Nebengeräusche wehren können. Die gehörten dazu und so mehr ich von der Innenministerkonferenz in Rostock las und hörte, so mehr fühlte ich mich an Powell und seine Brandrede vor dem UNO-Sicherheitsrat erinnert. Irgendwo, hörte man aus den Stimmen der Innenminister heraus, muss es doch Massenvernichtungswaffen geben. So sehr ich aber darüber nachdachte, was die Innenminister eigentlich zu ihren Äußerungen trieb, so weniger Antworten hatte ich parat .

Sie waren gehetzt, es ging schon lange nicht mehr um Gewalt im Stadion, es ging nur noch darum, Standpunkte, so absurd sie auch waren, mit aller Macht nach außen zu vertreten. Sie mochten keinen Widerstand. In ihren Drohgebärden schwang die Verzweiflung der Verlierer durch. Doch sie würden nicht aufgeben, wenngleich ihr Kampf, das hatten sie längst bemerkt, nicht mehr der Kampf der Massen gegen die Gewalttäter war.

Lange schon war es den Fans geglückt, mit einer beeindruckenden Form des Protests Oberhand zu gewinnen. Und es waren nicht die radikalen Teile der Fanszene, die die Diskussion dominierten. Durch die Versachlichung hatte sich das Blatt gewendet. Doch trotzdem hatten diese Ablenkungen vom Spiel einiges an Kraft gekostet. Sogar die Beobachter, zu denen ich mich allein aufgrund der räumlichen Distanz zählen musste.

Ich war unruhig, und egal welche Platte ich jetzt auch aus dem Regal zog, meine Unruhe wollte nicht vorbeigehen. Ich stand bald auf, schritt zum Fenster, blickte auf die Straße, wie ich es in den letzten Wochen so oft getan hatte, um mich zu beruhigen. Ich blieb nervös. Ich versuchte es mit der Bakesale von Sebadoh, bald mit der Unten, dann mit Hauptsache Musik und auch Slint, Dakota Suite, Low und Savoy Grand in direkter Abfolge waren keine Lösung. Ich versuchte mich an einem Kommentar, versuchte, meine Kraft für diesen einen kurzen Moment zu bündeln, mich zu konzentrieren, aber es war hoffnungslos.

Zeit, die Stadt wenigstens für ein paar Momente zu verlassen. Am S-Bahnhof Wollankstraße stieg ich in die erstbeste Bahn in Richtung Norden. Der See wird mir Ruhe schenken, dachte ich, als der Zug in Richtung Henningsdorf einfuhr. Vorbei an der Schönholzer Heide, das Märkische Viertel im Osten liegen lassen, immer weiter Richtung Norden, vorbei an Bonnies Ranch, in Richtung Tegel, dem See meiner Flucht im Juli. Damals aber auf der anderen Seeseite. 

Am Ufer des Tegeler Sees stehend sah man dort noch die Deutschland-Fahne wehen. Der Staatsbesuch, dachte ich. Mir wurde schwindelig, ich fiel auf die Erde, direkt in den Schnee. Direkt vor der Dampferanlegestelle. Ich war platt. Die letzten Wochen hatten alle Kraft in mir verbraucht. Ich schloss die Augen und als ich sie wieder öffnete, hatten sich ein paar Enten neben mich gelegt, manch eine wärmte sich an meinem Rücken. Wolfsburg, Hoppenheim, Hannover, Oderbruch, dachte ich, im Schnee am Tegeler See liegend. Pause. Luft holen. Das Gewicht nicht mehr spüren.