Irgendwo auf der anderen Seite des Kanals landete der Hubschrauber. Niemand sprach ein Wort. Sie fuhren mich zum Bahnhof und drückten mir ein Ticket in die Hand. Abfahrt Dunkerque 16.39 Uhr, Ankunft Berlin Hbf 04:26. Ein Höllenritt über Lille, Brüssel, Düsseldorf und dann den City Night Liner. Wer immer mir das Ticket gekauft hatte, er meinte es nicht gut mit mir. Erst der Hubschrauber, dann der Zug. Wieso nicht das verdammte Flugzeug?
In den Zügen war ich abgeschnitten, in Brüssel trieb ich mich ein paar Minuten am Bahnhof rum. Eine hoffnungslose Stadt. Sie hatten sich für die Bürokraten kaum Mühe gegeben. Doch so richtig viel Zeit blieb mir nicht, wenn ich den Zug bekommen wollte. Es reichte gerade einmal für einen Kaffee und eine Kippe vor der Tür. Es war dreckig. Wie es an jedem Bahnhof der Welt einen falschen Ausgang gab, so gab es diesen Ausgang auch in Brüssel. Natürlich hatte ich ihn wieder erwischt. Ich spiegelte mich in den Lichtern des gegenüberliegenden Gebäudes.
Was war mit mir geworden? Wie war ich der geworden, der ich seit langer Zeit nun schon bin? Hätte Dörte mich davor (wovor, Dembowski?) bewahren können? Und hätte ich diese Hilfe angenommen. Ich war ein Streuner, ein einsamer Läufer. Einmal weg würde niemand meine Sicht der Dinge vermissen. Ich stand dort. Hatte meinen Anzug, den ich immer trug, an. Darunter ein T-Shirt mit der Aufschrift “Rettet die Wale!”, darüber einen dunklen Mantel, meine Schuhe hatte bessere Zeiten gesehen, auf eine Mütze hatte ich noch nie wert gelegt, so dass meine seit 18 Monaten ungeschnittenen Haare bis weit an die Schulter langten. Von meinem Gesicht sah ich in der Spiegelung nur noch einen Bart. Ich hatte mich verhauen und war ich ehrlich zu mir, gab es keinen Ausweg mehr. Ich musste das Ding mit meinem Leben jetzt durchziehen. Ohne Aussicht auf Dörte, ohne Aussicht auf Besserung.
Auch Brüssel musste ich hinter mir lassen, kaum war ich angekommen. Am Eurostar-Terminal und den dreckigen Warteräumen vorbei ging ich zum Thalys/ICE-Terminal. Hinter mir waren die Mauern der England-Verbindung, vor mir lag eine weiterhin ungewisse Zukunft. Immerhin Düsseldorf. Immerhin zurück im Land. Leider würde mir keine Zeit für einen Abstecher in die Nordstadt bleiben, aus dem Liegewagen würde ich, wenn ich Glück hatte, die Lichter der Nordstadt sehen und dieses seltsame Gefühl, wenn man seine Heimat durchfährt und nicht aussteigen kann, würde in mir hochsteigen. Doch erst einmal musste ich nach Düsseldorf kommen. Im Zug hatte ich einen Fensterplatz und als die Ardennen an mir vorbeiflogen, ich manchmal durch die Dunkelheit auf alte Werkstätten sehen konnte, machte ich für einen kurzen Moment meinen Frieden mit mir. Reisen beruhigte mich. Ich reiste viel zu wenig.
Düsseldorf, Ankunft 21.42 Uhr. Und gleich die Ansage: Der City Night Liner fällt aufgrund der Witterungsbedingungen aus. Jetzt stand ich in der Landeshauptstadt, wollte in die Bundeshauptstadt. Es flog kein Flugzeug mehr, es war kalt. Ich rief Redermann an, schilderte ihm meine Lage. Doch er war mit der Aufarbeitung des Le Tallec-Transfers beschäftigt. Le Tallec war mir herzlich egal, immer gewesen. Er wurde in Osnabrück eingewechselt und verletzte sich an der Schulter. Mehr war mir von ihm nicht in Erinnerung geblieben. Mir fiel das Ende der Transferperiode ein. Der Grund meiner Reise, hatte ich geglaubt. Redermann erwähnte noch den Zidan-Transfer. Barrios, erklärte er mir, hätte sich von den Fans überzeugen lassen. Seine weiteren Ausführungen gingen im Bahnhofslärm unter.
Ich setzte mich trotzdem in eine S-Bahn und fuhr durchs Ruhrgebiet. Jetzt hatte ich Zeit. Irgendwo die Nacht rumkriegen. In Bochum stieg ich aus, setzte mich in eine Bahnhofskneipe, bestellte mir ein Pils und stimmte in Gedanken den Zidan-Gesang an: “Zidan, Zidan! Euer Welteruntergang!” Die Knieverletzung war ein Rückschlag. Vor Dortmund hatte ich in in dieser Nacht Angst. Ich würde mit niemanden sprechen. Was hatte das alles zu bedeuten?
Das fragen wir uns zwischenzeitlich auch alle … .