Jetzt also auch noch Kehl. Fehlten eigentlich nur noch Kagawa und Kuba. Doch das würde sich noch ziehen. Wie immer hatte die Vereinsführung nicht geredet, sondern einfach gehandelt. Während in München der überschätzte Ersatzspieler seit Monaten fast verlängert hatte, ging es im Falle Kehl ruhig und schnell. Irgendwann stimmten die Leistungen auf dem Platz wieder. Kehl hatte ihn lange nicht wirklich gesehen, umso mehr Respekt hatte er für sein bisheriges Auftreten in dieser Spielzeit verdient und irgendwann musste man dann verlängern. 1 Jahr, 1 Jahr Option. Vielleicht über die Anzahl von Spielen, vielleicht auch einfach so. Sie würden sie ziehen. Und Kehl würde seine Karriere in Dortmund beenden. Danach eine Rolle im Verein übernehmen. Was sonst, dachte ich mir, soll Kehl und soll der Verein machen.
Kehl kam 2002 in Zeiten des real existierenden Größenwahns. Er ist, dachte ich den Tränen nahe, der letzte Überlebende eines lange verlorenen Krieges. Er ist, jetzt in Tränen aufgelöst, das Sinnbild für den Fall und den Aufstieg der Borussia. Als er kam, war es nur ein Frage der Zeit, bis sich die Mannschaft um Amoroso, Rosicky, Metzelder, Koller, Evanilson, Wörns, Dede, Ewerthon und Lehmann für die höchsten Aufgaben empfehlen würde. Der erneute Champions-League-Triumph war nur noch ein Katzensprung entfernt. Mit dem jungen Kehl fand ein wichtiger Baustein in das Team. Er war der Sammer der frühen 00er-Jahre und würde, da war ich mir sicher, eine ähnliche Karriere hinlegen.
Natürlich kam alles anders. Cottbus und Brügge waren die Meilensteine, Hennecke und Röckenhaus die Dosenöffner. Der Laden flog auseinander. Und immer wenn die Bayern einen wenig tadellosen Charakter suchten, zeigten sie auf Kehl, der sich damals für das Geld und nicht für den großen FC Bayern entschieden hatte. Und immer wenn die Fans einen überbezahlten Spieler im Kader ausmachen wollten, fanden sie in Kehl ein dankbares Opfer. Natürlich, er hatte sich in den WM-Kader 2006 gespielt, aber danach war er verletzt. Beinahe fünf Jahre am Stück. Dass Brazzo sein Bein damals hingerichtet hatte, geriet schnell in Vergessenheit. Kehl war noch da. Aber spätestens mit den Young Guns Sahin und Bender hatte er seine Zukunft längst hinter sich.
Irgendwann in der letzten Saison. Redermann und ich trafen uns vor einem Spiel, öffneten die Kannen, träumten vom Titel. Noch wurde nicht spekuliert, ob Dede oder Weidenfeller die Schale präsentieren dürfen, aber an diesem Tag war uns klar, dass es nicht Kehl sein würde. Redermann hatte ihn noch am Vorabend in einem Restaurant gesehen. Am Vorabend eines Spiels. Dass Kehl mal wieder verletzt war, störte uns nicht weiter. „Der sitzt hier seine Zeit ab. Doch die ist vorbei“, erklärte ich Redermann. Dieser hatte mir vorher in aller Ausführlichkeit erklärt, dass Kehl nicht einmal einen Platz gefunden hatte. Niemand wollte für ihn aufstehen. In einer Kneipe auf dem Weg zum Stadion hörte ich dann eine weitere Kehl-Geschichte. Wieder war er irgendwo gewesen und wieder hatte er keinen Platz gefunden.
So hatte ich Kehl nur noch als ein Gerücht wahrgenommen. Auf seine wenigen Einsätze folgten meist wochenlange Verletzungen. Doch der Brazzo-Bonus war längst aufgebraucht. Irgendwann musste damit auch Schluss sein. Die Meisterschaft kam und es war an Weidenfeller zum meist fotografierten Mann des Tages zu werden. Aber in dieser Nacht musste etwas mit Kehl passiert sein. Vielleicht wollte er diesen Moment noch einmal erleben. Sein letztes Lebenszeichen am Meisterwochende war eine Einladung in einen Dortmunder Pub. Dort schien er alleine zu sitzen. Und dieses Wochenende sollte nicht enden. Nicht für Kehl, der am Sonntag dann doch die Schale präsentierte. Als Kapitän. Als Anführer. Jetzt wollte er mit seiner Familie feiern. Diese waren die BVB-Fans.
Irgendwas war passiert. Als Kehl die Mannschaft dann auch in der Saison 2011/2012 als Kapitän aufs Spielfeld führte und immer mehr Spielzeit erlangte, wurde er zu dem wichtigsten Spieler im Kader. Mats Hummels verzieh man seinen Aussetzer gegen Marseille, doch Kehls Pass gegen Arsenal war noch lange Gesprächsthema. Er machte weiter. Fand wieder zurück in den Kader und bewies in den letzten Monaten, dass man in diesem Kader auch mit 31 Jahren noch tonangebend sein kann.
Die Vertragsverlängerung von Sebastian Kehl war folgerichtig. Sie war ebenso ein Signal für die Zukunft, wie auch ein Wink aus der Vergangenheit. Lange schon hatten sich die Bayern nicht mehr zur Personalie Kehl geäußert. In ihrem Kader gab es längst keinen Spieler aus der Saison 2001/2002 mehr. Auch hier trieb die Borussia die Wachablösung voran. Sie band verdiente Spieler an sich. Nicht aus Nostalgie, sondern als Anleihe auf die Zukunft.
Es wäre auch nicht wirklich erstrebenswert, so eine Entwicklung zu forcieren. Das haben wir vor über 10 Jahren mal probiert, und alles was wir bekamen war Nerlinger, Lattek und ne Pleite. Wenn es irgendwann mal passiert, dann passiert ist es.
Trotzdem wäre die Doppelmeisterschaft ne feine Sache, trotzdem würde ein Titelgewinn von uns Euch ordentlich schmerzen. Und trotzdem mochte ich Deine Empfindlichkeit beim ersten "Wachablösung"-Text. Da habe ich dann auch gerne mehr davon erzählt. Eine gute Geschichte muss erzählt werden, bevor sie passiert.
Sie bietet sich an, wenn sich die Geschichte zumindest soweit selbst geschrieben hat, das es absehbar sein "könnte"!
Nichts gegen eure Errungenschaften in den letzten 18 Monaten auf nationaler Ebene und es steht auch außer Zweifel, dass ihr zur Zeit das stärkste Kollektiv stellt, aber eine Wachablösung setzt doch etwas mehr voraus.
Das soll jetzt nicht Arrogant klingen, aber 3 Dekaden Dominanz sind nicht in 2 oder 3,4 Jahren zu stürzen.
Der Fußball ist zu schnelllebig als das ich da Konsens finden könnte.
das freut mich doch. und die wachablösung. ja. die immer wiederkehrende wachablösung. um eine geschichte zu erzählen, braucht es geschichten. die geschichte der wachablösung bietet sich in dieser saison einfach an.
Du und die Wachablösung. Kausalitäten jenseits von Gut und Böse. Irgendwann wirst du es mir ernsthaft erklären müssen.
Was ich dir jedoch nicht abstreiten kann ist Talent, zu schreiben.
Auch wenn unsere Lager und Ansichten völlig verschieden sind, finde ich immer mehr gefallen an deinen Texten.