Das mit dem Jahr hatte ich komplett vergessen. Vor einem Jahr war ich aufgewacht, aus einem langen Schlaf. Fortan machte ich mir Notizen zu meinen Ermittlungen. Natürlich hatte es mich bereits vorher gegeben, aber ich war nicht die öffentliche Figur, die mir jetzt immer begegnete. Ich hatte die Pforten der Wahrnehmung verschoben. Mein Scheitern zum Stilmittel erhoben, meine Flucht als Ausweg erkannt.

Doch in all der Zeit hatte mich nichts mehr berührt als das Spiel der Borussia. Wenn ich auch Dörte suchte, und sie nicht fand, so hatte mich in den vergangenen 366 Tagen der Ballspielverein jedoch komplett verzaubert. Hatte ich zuerst die Meisterschaft unter Sensation abgespeichert, war spätestens im November die Stimmung gekippt. Diese Mannschaft war nicht nur jung, sie war voller Gier und spielte den wahrscheinlich besten Fußball, den ich zu meinen Lebzeiten sehen würde. 
Im Moment ihrer größten Niederlage, wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von Niederlage sprechen konnte, hatte es geklickt. Sie waren, auch wenn mir niemand glauben wollte, durch zahlreiche unglückliche Fügungen aus der Champions League ausgeschieden und erarbeiteten sich doch damit einen ganz neuen Status. Sie hatten sich nicht hängen lassen, sondern waren ihren Weg weitergegangen. Der führte sie heute, ein Jahr nach meinem Erwachen, in eines der großen Spiele. Eines der Spiele, für die der Fußball so geliebt wird.

Bester Dinge war ich so aus dem Herzen der Republik zurückgekehrt. Wenn ich mir es auf dem Rückweg auch nicht hatte nehmen lassen, ein paar Umweltaktivisten als Nazis zu schimpfen, konnte ich vor Aufregung an wenig andere Dinge denken. Es war mir egal, ob sie an den Stadtgrenzen auf mich warteten (taten sie nicht, meine Flucht aus der Klinik war rechtlich gesehen nicht mehr als eine Entlassung auf eigene Gefahr, wie ich dem Schreiben der Klinik später noch entnehmen sollte) oder ob eben jene oben bereits erwähnten Umweltaktivisten sich mit ihren Fahrrädern in die Bahn drängelten und sogleich kommandierten. 

Mein Pöbeln ließ sie ehrfürchtig zusammenschrecken. Sie, die sie Outdoorjacken trugen und unfähig waren, die 70 Kilometer von Chorin bis an die Stadtgrenze zu fahren, hatten nichts mehr als meine beiläufige Verachtung verdient. Doch bereits das zerstörte ihren Tag. Ich wollte nicht noch weiter in der Wunde bohren. Es war meine Woche, das spürte ich. Da konnten mir piratenwählende Umweltaktivisten schlichtweg egal sein. Das Prinzip piratenwählender Umweltaktivisten hatte sich mir bislang ohnehin nicht erschlossen.

Die letzten Meter bestritt ich zu Fuß. Die U8 hätte ich als unangenehm befunden. So spazierte ich mit leichtem Gepäck durch das Gesundbrunnenviertel, machte an der Tramstation Rast. Die schärfste Currywurst der Stadt kam mir gelegen. Über einer Molle beobachtete ich die auf und abfahrenden Trams. Hinter der Grüntaler kämpften sie sich die Böse Brücke hoch, an der Osloer krümte sich die Tramlinie die Seestraße entlang. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Berlin 2011 fühlte ich mich daheim. Ich hatte mich mit meiner Situation abgefunden. Mittwoch werde ich nach Kreuzberg fahren, Borussia sehen, und auf mich aufpassen. Ein Klinikaufenthalt war genug! Das würde mir, aber auch der Borussia nicht mehr passieren.

Ein wenig war mir vor den Mails bange, doch bei der Durchsicht meines Posteingangs stellte ich fest, dass ich mich wie immer überschätzt hatte. Ein paar Glückwunschmails waren eingetroffen, die von Opa Koslowski freute mich besonders, ein paar Leser fragten nach, was denn mit den Kommentaren sei. Die kicker-Leserbriefe würden niemals an die Qualität der Kommentare reichen. Erfreulich. Doch ansonsten war da wenig, bis ich auf eine weitere Lesermail stieß. 

Ich hatte Siamese Dream aufgelegt und war gerade natürlich bei meiner Lieblingsstelle, bei meinem Lieblingslied (wie man immer gerade bei seiner Lieblingsstelle, bei seinem Lieblingslied ist, wenn entscheidende Dinge passieren), sang lauthals: „Today is the greatest day I’ve ever known! Can’t live for tomorrow, tomorrow’s much too long!“. Ich öffnete die Mail. Ich war nicht mehr die Ruhe selbst. In der Mail fragte ein Leser, was es denn mit diesem Breitnigge auf sich hätte, der da jetzt die Kommentare verfasse. Ob das nicht eher ein Bayer sei, und was er bei DerSamstag! zu suchen habe. Berechtigte Fragen. Aber schwachsinnige Fragen. Sicher hatte sich Redermann einen Spaß erlaubt. 
Von einem Breitnigge hatte ich noch nie gehört. Der Leser bezog sich auf die aktuelle Ausgabe. Ich blätterte sie durch. In meiner Abwesenheit hatte Redermann, gegen meine ausdrückliche Anweisung!, Stellung gegen Homophobie bezogen und den Aufruf der Rainbow Borussen abgedruckt. Er hatte weiterhin sein Hauptaugenmerk auf Duckschi Ducksch gelegt. Wen interessierte schon der Flügeflitzer der Amateure? Aber was ich dann las, liess mein Herz bis zum Hals springen. Da stand:

2001 ist nicht 2012
(bonn / 10.04.2012) Der Gigantengipfel steht an. Mir ist nur leider nicht nach derlei Metaphern. Schlimm genug, dass mein FC Bayern nun in Dortmund gewinnen muss, um noch die Doppelmeisterschaft der Borussen zu verhindern. Andererseits: Wieso ist das schlimm? Der Erfolg kommt ja nicht aus der Luft. Vielleicht ist es auch der Neid, der uns Bayern nach Dortmund schielen lässt. Kein Neid, dass unsere Führung mit den Methoden der 80ern agiert. Nein, Neid darauf, dass beim FCB niemals so viel Geduld sein wird, eine Mannschaft so lange und ungestört aufzubauen. Eine Mannschaft wie sie der FCB 2001 hatte. Als es den letzten galligen bayerischen Auftritt im Ruhrpott gab. Von all dem abgesehen: Keine Sorge – die Polemik kommt schon noch. Während des Spiels. 🙂 (breitnigge / DerMittwoch!)

Ich war entsetzt. Wie hatte das passieren können? Und dann noch dieser saftlose, einlullende Ton von Breitnigge. Ich rief Redermann an, er aber ging nicht ans Telefon. Ich schrieb ihm eine Mail.

„Ey, Redermann! Was soll der Scheiß? Dat is nen Bazi!“

Doch ich erhielt keine Antwort. Ich überlegte. Am Ende hatte der Kollege Breitnigge vielleicht sogar Recht. Er hatte sich irgendwie ins Blatt gemogelt und ich las noch einmal. Ich erinnerte mich an den Freistoß aus Anstoß2. Rosicky gegen den Pfosten, in die Hände von Kahn, dahinter die Bengalos. Wie wäre die Saison verlaufen? Hätte Dede Sammer bereits ein Jahr früher als Commandant bezeichnet oder hätte es den Jubeler beim 2-1 in Hamburg nie gegeben? Es kommt immer so, wie es kommen muss. 

So war ich hier im Soldiner Kiez gelandet, und nur so konnte ich mir den Kommentar erklären. DerMittwoch! Die Spitze hinter der freundlichen Fassade. Aber was war das damals für ein Spiel. Es muss kurz vor der Zirkusclown-Zeit gewesen sein. Es war gut, wieder da zu sein. Die Jahre dazwsichen aber hatten uns stärker, und die Bayern nur egaler gemacht. Gewannen sie Titel, so sagte man, immerhin nicht die Blauen, vergeigten sie Titel, so dachte man, und jetzt: Wolfsburg? Stuttgart? Wir waren einen Schritt weiter. Wir waren auch jetzt noch dran. Und ich wurde mir immer sicherer, dass wir das Ding nach Hause fahren würden. Am Ende war Fußball nur ein Spiel, das unser Leben bestimmte.

Am Morgen wachte ich auf, fand eine Mail von Redermann. Die war lang. Mit keinem Wort ging er auf Breitnigge ein, aber was ich dort las, öffnete mein Herz.

Nach einigen grauen Tagen und einer regnerischen Nacht ohne viel Schlaf schaut heute in Dortmund die Sonne zwischen den Wolken hervor. Um es mit Worten zu sagen, die man auch in der Hauptstadt versteht: Alles glänzt – so schön neu! Es ist alles angerichtet für das Dembowski Jubiläumsspiel und ich hoffe man hat Dir, lieber Dembo in der Klinik eine ordentliche Dröhnung verschrieben. Denn ansonsten kannste Dich heute Abend bestimmt wieder einweisen lassen.
Die Stimmung im Tempel wird beim Spiel der Spiele aber auch ohne Deine Anwesenheit überkochen. Immerhin gab es einen Stimmungsappell aus der Fanszene. Was zunächst so überflüssig erschien wie eine Ladung Rouge für Uli Hoeneß, hatte dann doch einen für mich interessanten Aspekt: Die Einpeitscher vor der Südtribüne wollen sich in Oldschool-Manier auf Gesänge beschränken, die auch dem Rest des Stadions bekannt sind. Sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, aber wir wissen beide, dass es in Zeiten des modernen Fußballs viel zu oft anders läuft.
Das könnte auch eine kleine Ehrenrettung für die alte Schule sein, die zuletzt in Wolfsburg nicht gerade geglänzt hatte. Vor dem Spiel sah man den selbsternannten Rächer der Enterbten mit einer Fahne vor seinem Bus rum hampeln, anstatt sich um die Schwarzmarkthändler in seiner Umgebung zu kümmern. Und nach dem Spiel konnte man Kanten in “Alte Schule Wolfsburg” Jacken in Aktion erleben, bis der rote Saft aus den Gesichtern volltrunkener Borussen spritzte. Hoffentlich wird sich nachher die wahre Oldschool erheben und zeigen, zu was sie in der Lage ist.
Ich schwanke noch, ob ich meine Nerven weiter mit Baldriantee zu beruhigen versuche oder doch schon zu Fangetränken wechsele. Aber dann endet der Abend nur wie in Düsseldorf. Noch 11 Stunden bis zum Schowdown. Wie soll ich die bloß rum kriegen?
Mit Puls 1909 grüßt aus der Bierstadt,
Ernst

Mein Puls hingegen war einigermaßen ruhig. Ich hatte keine Sorgen mehr. Wir würden gewinnen, und wenn wir nicht gewinnen würden, so würden wir trotzdem Meister. Manchmal fühlt man diese Dinge. Ich hatte es bereits im November gewußt. Beim Langen bestellte ich noch schnell drei Punkte. Es war angerichtet!