Trainingsauftakt in Dortmund, Boykott organisieren in Dortmund. Alles Sachen, die aus der Ferne immer unwirklicher erscheinen. Ich spinne mir meine Geschichte zusammen, schraube mir die Kronen rein und lasse mich zu allem Überfluss auch noch – und das über den Jahreswechsel! – von einem Russen einsperren, dachte ich, während ich die Prinzenallee hochlief. Raus aus dem Kiez. Die üblichen Grenzbauten erstaunten mich nicht. Hier waren früher die Agententunnel, den musste man ein freundliches Zuhause bieten und den sozialistischen Feind mit Häusern von ungeahnter Häßlichkeit seine Unterlegenheit beweisen. Ein perfider Plan, an jedem ehemaligen Grenzübergang der Stadt vollzogen.
Hinter dem S-Bahnhof Wollankstraße wurde es grüner, ich bog in Richtung Bürgerpark ab. Immer noch in Dortmund. Bei Redermann, der mir seit einiger Zeit die neuesten Informationen ins Ohr brüllte. Owo mit Gips, Leitner ganz fresh und alle Manni an Bord. Seit einiger Zeit pflegte Redermann eine Bender-Leidenschaft, die mir vollkommen abging. Ich hielt es seit 2007 mit dem großen Melancholiker Kuba, der nach seinen Aussetzern in der Hinrunde kurzzeitig für eine Glaubenskrise gesorgt hatte, sich aber mit Willen zurückgekämpft hatte. Natürlich, so hielt mir Redermann vor, natürlich kämpfte er sich jetzt zurück.
Es gehe um Kubas Platz bei der EM. Nichts anderes habe Kuba im Sinn und wenn ich Redermann nicht wirklich widersprechen konnte, so genügte mir das Aufblitzen seines unendlichen Potentials, um meine Liebe neu zu entfachen. Einer liebt den Zerstörer, ein Anderer liebt den Melancholiker. Das war nicht verwerflich. Und natürlich war ich nicht nur für Redermann froh, dass endlich alle Manni an Bord waren. Aber noch waren es ein paar Tage bis zum Boykott in Hamburg, der zur Stunde meines Spaziergangs im Conference-Center des Westfalenstadions diskutiert wurde.
Gerne hätte ich berichtet, gerne wäre ich vor Ort gewesen, doch der Russe, die Ermittlungen, die Pause und Pankow waren für mich nun einmal das Hier und Jetzt. Immerhin Pankow. Nicht der Soldiner Kiez, nicht die Samenhandlung. Ich brauchte eine Auszeit und die nahm ich mir. Immer wieder schweiften meine Gedanken in Richtung Beusselstraße, was hatte der Russe von mir gewollt? Wozu der Aufwand, wenn er mich dann einfach so hatte verschwinden lassen. Keine Gegenwehr. Er hatte mich im Blick, und sein Auge würde auf mir ruhen. Das alles bereitete mir keine großen Sorgen. Scheinbar wollte er nur Kontakt aufnehmen. Eine seltsame Art. Aber eine Art, die vielleicht nur der Natur seines Auftraggebers entsprang?
Mittlerweile hatte ich mich in einer Eckkneipe niedergelassen, war wieder im Westen, wieder im Kiez. Gedankenverloren war ich an anderer Stelle wieder unter der Bahn hindurch in den Westen gegangen. Ich wollte mich vom Kiez befreien und schlenderte doch direkt in die erste, wenn auch grenznahe, Kneipe im Kiez. An der Wand hingen ein paar Geldspielautomaten, in der Ecke stand ein Flipper, über die Anlage lief “Am Fenster”. Der Wirt setzte sich zu mir und erzählte mir ungefragt von früher, als die Mauer noch stand und er auf der anderen, also der Pankower Seite, voller Sehnsucht auf den Westen geschaut hatte. “Und schau Dir an, wie weit ich jetzt gekommen bin! Ein paar Meter. Die S-Bahn unterquert. Dann der Laden hier. Das hatte ich mir anders vorgestellt.” Seine wehmütigen, schmerzvollen Erinnerungen begannen mich alsbald zu langweilen. Sie erzählen von vergangenen Tagen und vergessen die Gegenwart. Andere hatten es schlechter getroffen.
Mein Blick schweifte durch den Laden, City hingen immer noch in der Vergangenheit fest und als nächstes würden mit Sicherheit die Puhdys kommen, mit ein wenig Glück vielleicht Karat. Ostrocknostalgie am ehemaligen Grenzstreifen. Hier ließ es sich aushalten. Mir war die Kneipe vorher noch nicht aufgefallen. Genau genommen war ich vorher auch nie hier gewesen. Immer hatte ich mich in Richtung Stadt orientiert, und als ich den Blick weiter durch den Laden schweifen ließ, blieb er am Flipper hängen. Eine unfassbar fette Person stand dort am Flipper und drückte die Knöpfe. Die Person faszinierte mich. “Wer ist das?”, fragte ich den Wirt. “Wer?” Mit einem Kopfnicken zeigte ich auf die unfassbar fette Person am Flipper. “Ach die! Das ist die fette Qualle von Pankow. Kommt jeden Tag hier rüber, trinkt einen Weißwein und spielt am Flipper. Hält sie fit, sagt sie.”