Kurz vor der alten Grenze hatte Dembowski seit einigen Tagen sein neues Büro bezogen. Die Nachbarn waren verhalten glücklich. 

Willkürlich war eines meiner liebsten Worte der ersten Bundesliga-Wochen. Scheinbar willkürlich hatte die Hertha sich an die Spitze der Bundesligatabelle gesetzt, scheinbar willkürlich war ich schon nach wenigen Tagen in der Hauptstadt erneut dem Alkoholismus verfallen, noch willkürlicher wirkten die Bemühungen der Bayern-Spitze, sich über die eigenen Anhänger zu erheben und somit natürlich nichts weiter als den nächsten Schritte der Fußballrevolution einzuleiten.

Die willkürlichste Nachricht von allen so willkürlichen düsteren Vorahnungen, die schon nach wenigen Tagen meine von den Kronen vernebelten Sinne vollkommen außer Gefecht gesetzt hatten, war natürlich die Nachricht über die Essgewohnheiten des vorbildlichen polnischen Nationalspielers der Dortmunder Borussia.

Steak also, gerne abgerundet mit einem deftigen Pfannkuchen. In der glühenden Sommerhitze Westfalens, am Nachbartisch die gefallenen Helden der alten Zeit. Als Mahnmal. Unsere Vergangenheit ist Eure Zukunft ist unsere Gegenwart. Die Konstrukteure lauerten auf ihre Opfer. Cause tramps like us, baby we were born to run.

Nur wovor rennen, welche Wege nehmen, welche Ausfahrt auf welcher Autobahn und wie kamen wir dahin? Willkürlich! Auf diesen Inseln behandeln sie das Altern mit Hypnose. Die Schlösser über der kleinen Stadt, die sich in der Abendsonne langsam wie ein Beobachter – von offenen Geheimnissen umschattet – bis an den Fluss legen. Der Bänker, der aus einer Tür tritt, um wenig später in einem Café noch einmal auf den Tag zurückblickt.

Die Veranstalterin, die an einem Tisch neben ihm sitzend, die letzten Telefonate führt und den Auftritt der gehypten Jungstars herbeisehnt. Der Arbeiter, der sein Feierabendbier trinkt und das alte Paar mit den Gedanken in ihrer Jugend. Der Junge mit der Neymarfrisur und dem Mandzukic-Trikot. Das Auto, das nicht mehr bremsen kann. Cause tramps like us, baby we were born to run. Auslöschung.

Die Straßen von Berlin an einem Freitag. Der Molukken-Kakadu auf den Schultern des 52 jährigen. Vom Aussterben bedroht. Jetzt auch schon 45 Jahre alt. 40 davon auf den abgewetzten Schultern des 52 jährigen. Er sagt: „Schwuchtel“ lacht und fügt ein „alter Säufer“ an. Ein Kuriosum im Sonnenuntergang der Bornholmer. Einsame Runden auf einem Dreirad. Bis zur Kreuzung der Gotland und zurück zur Berliner ist er auf Patrouille. Der Molukken-Kakadu schaut besorgt auf das Grillfest des Paintballzubehörladens und ruft: „Hallo“

Eine bricht zusammen und eine andere lacht nicht mehr als die Nachricht kommt. Die Steaks sind aus. Nebenan die Franzosen. Ein Wein. Ein Helles. Ein Pils. Nicht einmal der Verkehr übertönt den Schrei der zusammenkrachenden Autos. Willkürlich. Stärker als der Rest steht sie auf der Kreuzung, Blutflecken auf ihrem Kleid. Mit einer Hand dirigiert sie den Verkehr, mit der anderen Hand hält sie zitternd ihr Handy und über ihr rauscht eine U-Bahn in Richtung Abgrund.

Während ich aufstehe und langsam in den Sonnenuntergang laufe, sehe ich aus dem Augenwinkeln die Wannen der Berliner Polizei in Richtung Osten eilen. Überall das Blaulicht. Auf den Hügeln über der Stadt findest Du die Wahrheit. Und wo keine Hügel keine Wahrheit. Als die Konstrukteure mein Leben bestimmten, bevor mir erst Frank Berg und dann die Wahrheit über Schaan dämmerte. Wen siehst Du, wenn Du mir in die Augen schaust? Mich oder eine menschliche Hülle? Wo immer wir unser Bier trinken, ist unsere Heimat. Wir wohnen nicht an Orten, nicht in Städten, sondern in unserer eigenen Selbstgefälligkeit, die uns willkürlich mit anderen Personen zusammenführt und die uns an deren Erbärmlichkeit ersticken lässt.

Die Fehler suchen wir nicht. Die Fehler finden uns während wir an heimatlosen Orten sitzen und unsere Vergangenheit unsere Zukunft überlagert. Neben uns ein Mahnmal des Größenwahns. Vor uns Mahnmale der Trennung, hinter uns das Blut der beschrittenen Wege. Ohne Menschlichkeit.

Das Geld, die Gier, der Grund.

Zu später Stunde betrat ich die D.D. GmbH und drehte die Anlage auf. Durch das Schaufenster sah ich mehr Blaulichter, mehr Hipster, mehr Verkäufer, mehr Zugedröhnte. Noch einmal klappte ich meinen Computer auf und bereitete die vielleicht letzte Transferbombe des Sommers vor. An Eurer Selbstgefälligkeit sollt Ihr ersticken, schrie ich noch einmal durch die geöffnete Eingangstür der D.D. GmbH.

Nüchternheit war ein willkürliches Gut. Es war mir abhandengekommen. Fernab der Lamafarm. Werd politisch, schrie mir ein Junggesellenabschied entgegen und wollte mir noch ein Korn ihrer Wahrheit überlassen. Doch DerSamstag! war nur noch wenige Stunden entfernt und bis auf die seltsame Vorahnung, dass der schönste Tag in meinem Leben bereits gelebt, der glücklichste Moment meiner Existenz unbemerkt vorbeigezogen war, ging es mir wirklich gut. Das Auto, das nicht mehr bremsen konnte, cause tramps like us, baby, we were born to run.

Das Geld, die Gier, der Grund.

Platziere Dein Herz. Echte Liebe finden Sie nur hier. Aus Berlin berichtet Dietfried Dembowski. Vorurteile, Vorhalte, Verhandlungen – monatelang trank er sein Wasser auf einer Lamafarm im Oderbruch. Nun kehrt er in die Stadt zurück. Die Brauerei unterbreitet ihm ein deutlich verbessertes Trinkangebot.

Die D.D. GmbH in unmittelbarer Nähe zum alten Grenzübergang. Eine sommerliche Nacht, die lansgam Fahrt aufnimmt. Dietfried Dembowski, abgewetzte Jeans, Computerschuhe, eine Lederjacke über der Schulter, trinkt Kronen, neben ihm dokumentiert der Computer das Leben in Echtzeit. Er trägt seit Wochen dieselbe Unterhose. Streicht sich immer wieder durch die Haare, stürzt sein Bier runter und blickt auf die Straße.

Das Geld, die Gier, wir gehen bis auf den Grund.

Geboren in NRW, gestrandet im Soldiner Kiez. Direkt neben ihm das Büro eines Beraters, der in edlen Zwirn gekleidet mit leichten Schritten die Räumlichkeit durchschreitet. Immer wieder schlägt seine Faust gegen die Wand.

Doch die Gitarren sehen das anders, sie erzählen von dem Leid. Alles ist besonders, besonders schmerzvoll, besonders allein. Kein Stranger, der sich nicht für ein beängstigendes Bildnis des Großstadtlebens herschenken würde. Keine Veränderung. Und der Berater schreitet weiter, immer unruhiger, immer weniger selbstsicher, dabei hatte er heute noch in Augen geschaut, die ihm und sonst niemanden etwas bedeuten. Das war am frühen Morgen. Als die Welt jünger und er weniger nervös war. So viel Ärger und doch war da nicht einmal der Unfall, der sich nur Stunden zuvor weit außerhalb seines Blickfelds im Schatten der sich neigenden Schlösser im weit entfernten Schaan ereignet hatte.

Früher einmal hatte er von einer großen Karriere geträumt, dann war er in die Stadt gekommen, die ihn erst einspannte und dann immer schneller zerstörte. Und wenn er morgens seine Einzimmerwohnung in Wilmersdorf verließ und an die Grenze reiste, hatte er die Augen, die nur ihm etwas bedeuteten, schon längst gesehen. Den Rest des Tages verbrachte er in Meetings und brachte sein Produkt an den Mann. Abends dann erdrückten ihn die beleuchteten Straßen, die Gitarren zerstörten ihn. Doch für die große Reise langten seine Ersparnisse schon lange nicht mehr.

Das Geld, die Gier, die Auslöschung
Seine Wut war in mildem Selbstmitleid ertrunken, wären da nicht diese Augen, die nur ihm (und sonst niemandem) etwas bedeuteten. Der Satz, der ihn retten konnte, wurde nur wenige Meter entfernt gesprochen. Er hörte ihn nicht, griff zu den Antidepressiva, nahm noch einen Schluck aus der Flasche und während die grauselige Bagage in den Regierungsvierteln an der Abschaffung der Freiheit arbeitete, sah er zum letzten Mal den Junggesellinnenabschied, der dem vor dem Ladenlokal brüllenden Dembowski „werd politisch“ zurief. Wen man ihn finden würde, wäre da nichts mehr außer die Hülle und Augen, die nur ihm je etwas bedeutete hatten.

Im Großen und Ganzen wurden die Grenzen der Normalität eingehalten und schon bald würde die letzte Transferbombe explodieren. Die Wahrheit über Schaan fand man nicht in einem Ausflugslokal, so sehr man dort auch suchte.