Als die Erinnerung langsam zurückkehrte, erinnerte sich Dembowski an die Schwäne im Landwehrkanal

Eine Straße in der Nachmittagsdämmerung. Langsam arbeitet der Verkehr sich in Richtung Norden. Ein Lieferwagen hält. Schaltet das Warnlicht ein. Jetzt stauen sich die Autos weit über die Hauptstraße hinaus. Die Leuchtreklame der Spielcasinos, die als Spätkauf getarnten illegalen Wettbuden. Der Müll der vergangenen 10 Tage in blauen Plastikbeuteln. Ein Windstoß weht ein Schwung Discounterreklame über die Straße. Zwei Trinker in der Bushaltestelle. Geschützt vor dem kalten Februarwind. Schräg gegenüber tritt ein Mann mittleren Alters in Trainingsanzug aus dem Eingang des Supermarkts. Zwei große Träger Wasser in der Hand. Ein Zigarrenstummel hängt in seinem rechten Mundwinkel.

Er schaut sich um, biegt schweren Schrittes nach links auf die Soldiner Straße ab. Die Kamera verfolgt ihn jetzt für einen kurzen Moment. Begleitet ihn bis zur Hälfte der Straße, schwenkt vor dem Zebrastreifen nach rechts die Walter-Nicklitz-Promenade hinunter. Während der Mann seinen Einkauf über die Pankebrücke schleppt und sich noch einmal umdreht, ein Auto an ihm vorbeirauscht, verschwindet er langsam am linken Bildrand. Ganz langsam geht es jetzt über den gepflasterten Weg. Auf einer Bank sitzen vier Jugendliche. Spucken Kürbiskerne auf die Promenade. In der Panke treibt ein Einkaufswagen. Die Bäume verhüllen die Hochhäuser der Wollankstraße. Bald öffnete sich der Weg. Wir blicken auf die Tischtennisplatten und wieder sehen wir vereinzelte Trinker, die hier mit ihren Hunden den Sommer herbeisehnen.

Über uns blinken die Scheinwerfer eines sich im Landeanflug befindenden Airbus A320. Zwei Wege, langsam geht es zwischen dem Rückhaltebecken und der Panke entlang. Eine Hausfrau führt ihre Bulldogge spazieren, sie springt zur Seite, langsam verabschiedet sie sich aus dem Bild. Über eine Holzbrücke. Die Flutlichter des Werner-Kluge-Sportplatz. Ein gedrungener Türke dirigiert seine Spieler, die lockeren Schrittes über die Breite des Kunstrasenplatzes traben. Am Gitterzaun sehen wir ein Paar. Sie küssen sich im Flutlicht.

Eine Mauer, eine kleine Öffnung. Die Panke stürzt durch die ehemalige Zonengrenze. Absperranlagen, eine langsam verfallende Kindertagesstätte. Eine nahezu menschen- und häuserleere Straße. Durch eine Unterführung aus roten Backsteinen dringen wir in den Osten. Ein in das Pflaster eingelassener Schriftzug erinnert an die Teilung Deutschlands. Der ehemalige Grenzstreifen wird an einer Stelle von einem Garten unterbrochen. Durch den Matsch des abtauenden Grünzugs, langsam dringen die Geräusche der Straße wieder an uns. Ein einfahrender Zug der Linie S25 fährt weiter nach Hennigsdorf. Ein dunkler Gang. Mit schwerer Last steigt der Ermittler die Treppen hinunter. Die Kapuze seines Parkas tief ins Gesicht gezogen. Schwarze Jeans, schwarze Turnschuhe. Unter seiner Kapuze blinzeln die Augen durch zu lange Haare. Er biegt auf die Kühnemannstraße, schreitet sie am S-Bahndamm entlang ab. Auf der Wollankstraße staut sich der Verkehr in der Nachmittagsdämmerung. Die BVG-Anzeige verkündet die verspätete Abfahrt des M27er in Richtung Jungfernheide, im Niederflurbus der Linie 255 trägt ein Paar seine Streitigkeiten mit schwingen Fäusten aus. Dembowski setzt sich in einen Dönerladen.

Er beugt sich über einen Aktenordner. Auf der Seite sehen wir gerade noch den Schriftzug „Unzulänglichkeiten“. Der Ermittler blättert durch die Papiere, nimmt hin und wieder einen Schluck Tee zu sich. Während die Kamera langsam von der Decke über die gebeugten Schulter des Ermittlers zoomt, spricht Dembowski mit durchdachten Worten.

„Wo bin ich?“

In den letzten 10 Tagen hatte mich die Welt in Beschlag genommen. Ich erinnere mich noch an eine Zugfahrt nach Dortmund. Kurz vor dem Dortmunder Hauptbahnhof klingelte das Telefon. Redermann bat mich zum Gespräch. Letztendlich, das war für das Wochenende ohnehin geplant, ging es darum, die Aufholjagd der Borussia genauestens zu skizzieren. Redermann wollte das jetzt eben eine paar Tage früher machen. Er erwartete mich am Hauptbahnhof und wir entschieden uns für ein paar Bier in der alten Erdgeschosswohnung.

Redermann erklärte mir kurz den Stand der Dinge in Sachen schwatzgelb.de-Schmierfink Web. Es gab keine Neuigkeiten. Web beharrte weiterhin auf seine Version, unterstellte DerSamstag! und natürlich in erster Linie mir beharrlich die ungesunde Endform des Alkoholismus. Er würde, so berichtete mir Redermann, auch in Zukunft die Wahrheit, oder eben das, was seine verblendete Schreiberseele dafür hielt, aussprechen. Wir dachten nicht weiter drüber nach und Redermann legte eine alte Donald Byrd-Platte auf.


Wir hörten die Anfangssequenz von The Little Rasti. Mir war nicht klar, was das für Redermann, dem Tränen aus den Augen schossen, bedeutete. Mir wäre es auch egal gewesen, aber Redermann beharrte darauf mir das Leben und Sterben Byrds bis ins letzte Detail zu erklären. So ging das bis weit in den Spieltag hinein. Wir hatten nicht nur die Aufholjagd und den Schmierfinken vergessen, sondern uns vielmehr auch gänzlich im Jazz verloren.

Danach bewegte ich mich von fremder Hand gesteuert durch eine Woche, an dessen Ende zumindest meine Rückkehr in den Soldiner Kiez stehen sollte. Blickte ich jetzt am Tisch im Dönerladen sitzend zurück, erinnerte ich mich schemenhaft an eine hochverdiente Klatsche gegen Hamburg, eine Auseinandersetzung mit Web, dem ich ein blaues Auge verpasste. Blickte ich zurück, erinnerte ich mich an Redermann, der lauthals Dominoes forderte, während ich die Plattenspieler in einer Dortmunder Kneipe bediente. Ich thronte hoch über dem Publikum und stürzte zahlreiche Biere in mich hinein, während ein Spielerberater mir die neuesten Lewandowski-Gerüchte in Richtung Pult brüllte und Udo Lindenberg das Mädchen aus Ost-Berlin besang.

Lewandowski, brüllte der Spielerberater, habe seine Entscheidung längst getroffen und der Verein auch zugestimmt. Was jetzt passierte, so erinnerte ich mich, hatte der Spielerberater über die Fernweh Lindenbergs geschrien, sei einfach nur noch ein Spiel, um die internationale Aufmerksamkeit noch genauer auf die Liga zu lenken. Ich hatte dort oben am Pult stehend nur gedacht, dass dieser verdammte Spielerberater mir noch vor ein paar Wochen die scheinbar exklusive Information der anstehenden Vertragsverlängerung Lewandowskis gesteckt und ich sie dann ja auch gleich rausgehauen hatte. Wem sollte ich in diesem Spiel noch glauben und nützte der Glaube und wenn ja, wem nützte der Glaube?

Die Nachricht musste mich zutiefst verstört haben, obwohl es keine war. Ich war dann überstürzt aufgebrochen, hatte mich bis zur Wochemitte auf der von Dörte für eine Schulung verlassenen Lamafarm im Oderbruch verschanzt und war scheinbar am Mittwoch zurück in die Stadt gefahren. In meiner Erinnerung sah ich die Schwäne im Landwehrkanal und mich wenig später auf den Stühlen der Kneipe stehen. Hummels musste da soeben das 2-2 erzielt haben.

Jetzt war Samstag, ich saß in einer Dönerstube auf der Wollankstraße, trank Tee und in wenigen Minuten würde die Borussia gegen Frankfurt spielen. Ich warf einen letzten Blick auf meinen Ordner, der die zusammengetragenen Namen sämtlicher Dortmunder Nazis enthielt. Ich hatte zwar keine Ahnung, wo ich diese Informationen herhatte, aber das Spiel in diesem Moment keine Rolle. Endlich hatte ich ein wenig Material für Frank Berg. Mir war klar, dass der Verein und die angeschlossenen Medien weiterhin wenig unternehmen würden, Berg aber konnte helfen. Einige zutiefst gestörte Personen hatten sich in der Deckung der Ukraine mal wieder in die Schlagzeilen geprügelt, doch alles was der Verein in der Öffentlichkeit tat, war das Signal einer Reaktion, mehr nicht, dachte ich und warf noch einmal einen Blick auf die Namensliste. Der Ordner trug den Namen „Unzulänglichkeit“ und ich fragte mich, während ich einen Schluck Tee nahm und mit gebeugten Schultern an einem Tisch eines Dönerladens in der Wollankstraße war:

„Wo bin ich?“

Ich packte meinen Ordner zusammen, schaute verwundert auf den sich auf der Wollankstraße stauenden Verkehrt, überhörte ein paar Gespräche an der Bushaltestelle. Es hieß, dass im südlicheren Teil wohl noch ein Lieferwagen stand, der den Verkehr mit seinen Warnlichtern aufhielt. Mit der S-Bahn fuhr ich in Richtung Gesundbrunnen. Zwar war ich gerade erst ausgestiegen, aber bis gerade eben war mir scheinbar nicht bewusst gewesen, dass Dortmund gegen Frankfurt spielte.

Kreuzberg brannte und ich rannte die Reichenberger in Richtung Kneipe. Als ich die Tür öffnete, schlug mir neben dem üblichen Zigarettenqualm ein Schrei entgegen. „München, München!“ und ich fragte mich, was hier passiert war. Aber unter wüsten Beschimpfungen kam mir der muskelbepackte Fan der nationalen Besonderheit entgegen. „Willst wohl richtigen Fußball sehen“, schallte es ihm hinterher, während er aus der Kneipe flog. Ich nahm meinen Platz ein, sah auf die Leinwand und verfolgte die Zaubershow des Ilkay Gündogan. Mir war klar, dass sich das öffentliche Interesse auf Marco Reus einschießen würde. Nach seinem gelungenen Auftritt inklusive Dreierpacks natürlich auch verständlich, doch das Herzstück der Dortmunder Mannschaft war nicht erst seit Frankfurt Ilkay Gündogan. Ich liebte seine kurzen Ballkontakte, seine leichten Pässe in die Tiefe des Spielfelds, seine Ballberührungen und seine schnellen Wendungen. Langsam dämmerte es mir, ich war 11 Tage verschwunden und Ilkay war in dieser Zeit dem Dortmunder Spiel abhanden gekommen.


„Besteht da ein Zusammenhang?“, wollte ich von Nick von AnyGivenWeekend wissen. Aber der freundliche Blogger schaute mich nur an und fragte „Heute wieder Kronenschutz?“ und ich verstand nicht. Im Kühlschrank standen noch genau 3 Kronen. Ich nahm sie mir und sah wie Kuba Gündogan auf der rechten Seite freispielte. Ich öffnete mein Bier, nahm einen tiefen Schluck und Götze legte im Fallen auf Reus, der die wahrscheinlich besten 15 Minuten einer Mannschaft in Unterzahl mit dem 3-0 veredelte.