Während ich noch auf den Henker namens Winowski wartete, sprang ich in meinen Gedanken in eine Situation aus einem anderen Leben. Ich war wieder im Soldiner Kiez, heimgekehrt von meinem Treffen mit dem verrückten Komaroff, der noch was von Dresden erzählt, bald wieder geschwiegen hatte. Vielleicht sprang ich auf dem Ruhesessel vor der Panzerglasscheibe sitzend ein paar Tage zurück. Es war sonnig. Ich stand an der Kreuzung Pankstraße / Badstraße. Ging hinüber zum Bierpinsel, blickte auf die Dartspieler in ihren Thor Steinar-Kluften, vernahm die stumpf rockenden Freiwild aus den Lautsprechern, trat an den Tresen, sprach mit Else, die mir erzählte, dass Boateng wieder in der Stadt sei. Kurz vor der EM. Nicht der Prince, wie sie sagte, sondern der Wilmersdorfer Boateng. Der, der immer nur zum Kicken im Affenkäfig war. Jerome, erklärte sie mir, würde am Affenkäfig auf mich warten. 

Die Jukebox im Bierpinsel gab nichts her, der Mix aus Motörhead, Freiwild und Andrea Berg hatte mich ohnehin bereits mürbe gemacht, das Bier war schal, der Abend jung. Vielleicht konnte ich mit Boateng „Ein Schuss, Kein Tor“ anstimmen. Es würde ohnehin noch in seinen Ohren nachklingen.

Kurz vorm Affenkäfig, direkt an der Bibliothek an der Panke standen die die Kamerateams. Sie waren alle gekommen. Scheinbar war nicht nur Else informiert, auch der Rest der Welt hatte den Ruf Boatenges vernommen, nur mir war es wieder vergönnt gewesen, rechtzeitig davon zu erfahren. Immerhin gab es Else und ihre furchtbare Kneipe. Lesung! Freier Eintritt! Ausverkauft! Durch einen Hintereingang schlich ich mich die Treppen hoch, platzierte mich direkt neben der Tischreihe. Boateng erzählte von seiner Jugend an der Panke, von seinem großen Bruder George, der es nicht geschafft hatte, jetzt Hünde züchtete und Musik machte. Eine Weddinger Szenegröße, wie die neben Boateng sitzende Lektorin erklärte.

„Ey, Dembowski. Aufwachen!“ Ein kahlköpfiger 2-Meter-Mann stand neben mir. Seine Schultern versperrten mir den Blick auf das Ölfass hinter der Panzerglasscheibe. Ich rieb mir die Augen. Aus den Lautsprechern dröhnte jetzt GUZ mit seinem schwarzen Unterseeboot. „Bist Du der Schlächter?“, fragte ich ihn. „Semjon Winowski, ich soll Dir helfen!“ „Ich brauche keine Hilfe. Ich brauche Ruhe. Ich bin woanders“ „Meinst Du da?“ Winowski klatschte mir den aktuellen Boulevar-Titel aufs Sofa. Wieder Boateng, er hatte seine Kleidung nicht gewechselt. Jetzt war es später. Er saß an einer Bar. Sie tranken was. Und unterhielten sich. Wie man es eben so macht, wenn man beisammen sitzt. „In der Nähe“, erwiderte ich erstaunt, „ganz in der Nähe, Winowski!“ „Immer da, der Ermittler. Kann nicht still sein. Ist auf der Flucht! Daran werden wir arbeiten. Aber erzähl doch ersma!“

„Reiser 2 – DerSamstag 0! Das höre ich jetzt gerade. Reiser sagt: ‘Wir berichten und Du schwimmst mit dem Strom. Wen interessiert schon eine Lesung. Die Lesung, überhaupt die Lesung. Ich saß dort. Es ging um die Brüder Boateng. Jerômé war da, Kevin nicht, George verhindert. Aus welchen Gründen auch immer. Vorher war er da. Dann war er weg. An der Panke. Der Affenkäfig thronte im Hintergrund. Du kennst meine Vergangenheit, Semjon?“ „So wie man sie eben kennt. Du verschweigst ja nicht gerade viel“ „Ich kannte den. Ich war mit den Jungs im Käfig. Dachte ich. Bis sie mich verjagten. Erst die Boatengs, dann Redermann. Immerhin kennt mich Redermann noch. Jerômé also schaut an mir vorbei. Der Saal ist voller Kinder in Trainingsanzügen. Sie hängen an seinen Lippen. Der Junge aus dem Kiez. Oder der Besucher im Kiez. Ist doch auch egal. Der war da. Die sind jetzt da. Wollen dahin. Hinterher fallen sie über ihn her. Umlagern ihn. Freuen sich. Ihm fällt es schwer. Er sagt nicht viel. Gibt kaum Einblicke. Und jetzt das?“, ich zeigte auf den Titel.

„Reiser ist Dir immer einen Schritt voraus! Wird Dir immer einen Schritt voraus sein. Du musst andere Wege finden. Hase und Igel“ „Aber das hat mit Fußball nichts zu tun. Das sind englische Verhältnisse. Die Favoritenrolle. Die Vorschusslorbeeren. Die Streitigkeiten um die Aufstellung. Die wollen den Titel?“ „Dembowski, wir sind nicht hier, um über Titel zu reden, wir sind auch nicht hier, um über Reiser zu reden. Der Dir die Luft zum Atmen nimmt, übrigens!“ „Was meinst Du? Worüber reden wir sonst?“ Meine Hand bewegte sich in Richtung Beistelltisch. Das Bier dort aber war schaler als das im Bierpinsel. Die beiden Realitäten verschwammen. Wo war ich wirklich? Im Unterwasseraquarium oder im Soldiner Kiez, versumpft im Oldie-Eck? Für einen Moment schwiegen wir. Ich schaute auf meine Kamera, die Bilder des Abends waren echt. Die Bilder des Unterwasseraquariums auch.

„Merkst Du es?“ „Was?“ „Wie Du Dich verrannt hast?“ „Inwiefern?“ „Als Du erstmals aufgetaucht bist, warst Du der Ermittler und was bist Du jetzt? Ein Nichts, ein Niemand, der hinter jeder Meldung eine Verschwörung, hinter jedem Menschen eine Geschichte vermutest. Und dass Du Deine Unsicherheit hinter Deiner Trunksucht verbirgst, steht Dir auch nicht sonderlich gut!“ „Trunksucht, Unsicherheit“, Winowski ging mir jetzt bereits mächtig auf den Sack. Er stand dort. Breitschulterig, kahlköpfig, mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht. Hatte die Weisheit gefressen und kaute sie mir wieder vor. Wo immer Piotr den Typen aufgegabelt hatte, es musst einer der zwielichtigeren Orte der Welt sein. Vielleicht hatte ich meine Probleme, aber musste er mir die sofort frontal ins Gesicht schleudern? Wozu sollte das gut sein.

Ich benötigte eine Strategie, versuchte, um Zeit zu gewinnen, das Gespräche noch einmal in Richtung Boateng zu drehen. Doch was auch immer ich sagt, Winowski blockte ab. Nacktmodells und ihre Gespielen, sagte er mir, hätten in der Tat nichts mit Fußball zu tun. Längst hätte ich mich zum Spielball gemacht. Längst hätte ich alles aufgeben, für das ich jemals angetreten war. „Erinnerst Du Dich an die Stimme?“, fragte er mich. „Damals in Scharnhorst. Das war Dein Kaliber. Das war Deine Liga. Du übernimmst Dich, mein Junge. Wir werden das ergründen!“ Meiner Meinung nach gab es da nichts zu ergründen. DerSamstag!, mit all seinen Veröffentlichungen, war die logische Reaktion auf die täglichen Angriffe gewesen. 

Aber Winowski interessierte das alles nicht, er sagte: „Was ist am Morski Oko mit Dörte passiert?“ Ich stockte. Was passiert war, war passiert. Am Morski Oko, als Dörte über die Bergkuppe aus meinem Leben trat und ich mit dem Trinken begann.