Reiser fuchtelte nervös mit der Pistole rum, zeigte auf die Bar in der Nähe des Fensters. „Mach uns mal einen klar, wir müssen was besprechen!“ Solange Reiser nur reden und trinken wollte, würde ich keine Probleme bekommen. „Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen? Irgendwann im Oldie Eck? Man liest auch gar wenig von Dir. Was willste denn haben? Vodka oder …“ Ich ging die Bar noch einmal durch „oder Vodka?“ Ich wartete die Antwort nicht ab und goss uns jeweils einen Doppelten ein. Wir hatten es nötig.
„Dembowski, ich würde Dir gerne etwas über die Wahrheit erzählen“, Reiser schaute mich hinter dicken Locken an und hob sein Glas, die Pistole immer noch in seiner Hand. „Kannst die auch auf den Tisch legen, ich werde nix probieren. Wenn Du mich hier gefunden hast, wirst Du nicht alleine sein.“ „Lass mal. Prost! Also: Die Wahrheit. Genauer die sechs Wahrheiten. Denk immer dran, wenn Du etwas hinterfragst. Es gibt nicht nur eine Wahrheit, es gibt immer sechs Wahrheiten. So wie eine Katze nicht ein, sondern gleich sieben Leben hat, so ist die Wahrheit ein dehnbarer Begriff, der immer verschiedene, und immer sechs Wahrheiten inkludiert. Verstehst Du?“
Ich verstand nichts. Aber das war ich von Reiser und seinen Mutmaßungen gewohnt und so hörte ich weiter zu. Er ließ mich ohnehin nicht zu Wort kommen, er hörte sich gerne reden und solange er redete und solange er trank, ging von ihm keine Gefahr aus. Reiser ließ sich tiefer in seinen Sessel fallen und ich dachte daran, dass Amok es ja sehen würde, und dass irgendwann irgendwer kommen würde, und mich befreien würde. Wahrscheinlich wieder Redermann mit dem Van. Vielleicht auch Winowski, der alte Stratege.
„Wahrheit 1: Semjon ist ein feiner Kerl. Für 48 Bier lässt der gerne mal ein paar Informationen springen. Und wenn Du ihm dann noch klar machst, dass es für Reval bald zu Ende geht…. Er ist ein Weichei, er hat Dich verraten! Wahrheit 2: Was Du da in Deiner Tasche trägst, was Du aus dem Tresor geholt hast, gehört nicht Dir, gehört nicht mir, das gehört seinem rechtmäßigen Besitzer. Aber wollen wir mal nicht so sein. Es gehört auch uns. Der Inhalt sollte für alle frei zugänglich sein. Aber dann gehört es mir und nicht Dir. Wahrheit 3: Was Du gehört hast, stimmt. Was Du nicht gehört hast, stimmt ebenso und welche Meinung Du auch vertreten hast, um im Bild zu bleiben, sie war immer richtig. Für Dich. Aber nicht für den Rest. Woher…“
Reiser stand auf, zuckte wieder nervös, rannte in Richtung Bar und schnappte sich noch ein Vodka. Ich saß da und war sprach- und bewegungslos. Was will der Typ, dachte ich sprach- und bewegungslos im Warschauer Büro sitzend, was will der Typ von mir und was meint er mit der Wahrheit? Bislang hatte er einfach nur Sätze aneinandergereiht, die überhaupt keinen Sinn ergaben. Es musste am Alkohol liegen, wer weiß, wie lange Reiser schon auf der Lauer gelegen hatte. Es war mir auch egal. Der Typ hatte ein Problem mit mir und viel mehr noch mit DerSamstag! Was ich verstehen konnte, hatten wir doch mit Boateng und Özil bislang überhaupt nicht falsch gelegen. Reiser hingegen schoß Fahrkarte über Fahrkarte. Mal kam der, der dann aber bei Leverkusen landete und mal kam der, der dann am nächsten Tag jedoch eine unbezahlbare Ausstiegsklausel in seinem Vertrag hatte und deswegen nicht kam. Und Reiser musste, das war eben sein Job, das alles auch noch rechtfertigen und erklären und schreiben. Da konnte man schon einmal durchdrehen. Genau das machte Reiser nun.
„Woher?“, schrie er mich an. „Woher hast Du die Boateng und Özil-Infos?“ „Ging es nicht gerade noch um verschiedene Wahrheiten. Wir waren bei Wahrheit Nummer 3, falls Du das schon wieder vergessen hast!“
„Schnauze. Kommen wir zur Wahrheit 4: Es ist nichts wie es scheint, es ist nichts wie es sein sollte, außer das Papier in Deiner Tasche, das nicht Dir und nicht mir gehört, aber lass es mich mal so formulieren. Ich kenne den Inhalt und Du nicht. Die Wahrheit also ist, das Du gänzlich un- und ich gänzlich allwissend bin. Die Wahrheit 5 ist einfach: DerSamstag! ist ein Schundblatt, und Deine Methoden hinterhältig und zwielichtig. Du bist stolz auf Deine Trunkenheit, Deine unfähigen Schergen, die nichts weiter als Verräter sind.“ Ich sprang auf. Das war eine Wahrheit, die ich nicht ertragen konnte. Aber Reiser hatte die Pistole und ich nur blinde Wut, in dieser schlug ich jetzt auf den Tisch. Natürlich. Das Glas. Die Scherben. Das Blut spritzte nur so aus meiner Hand. Mir wurde schlecht, ich lag jetzt auf der Erde, die Füße auf dem Stuhl, Reiser stand über mir, seine Haare hingen weit über sein Gesicht hinaus, sein Atem roch nach Alkohol. „Mit Deinem Atem könnte ich die Wunde glatt desinfizieren.“