Und so spazierte ich nach meiner Rückkehr aus der Nordstadt durch die menschenleere Stadt. Hier würde ich in den nächsten Tagen niemanden finden. Mittlerweile war der Frühling zurückgekehrt. Langsamen Schrittes schlenderte ich durch meinen Bezirk. Direkt hinter der Soldiner lagen die Dönerfabriken und dahinter gab es Gärten, Sportplätze und die Bahnlinie, die dereinst die Grenze markierte.

Mal schritt ich durch den ehemaligen Osten, dann wieder zog es mich zurück in den Westen. Auf meiner rechten Seite erhob sich das Sowjetische Ehrenmal zu Schönholz. Sie hatten Bauzäune um das Gelände gezogen, doch den Obelisken konnte ich von meiner Position gut ausmachen. Ein paar Meter hatten sie eine geflochtene Bank vergessen, ich ließ mich nieder, hörte den vom Frühling erweckten Vögeln zu, über mir konnte ich bereits die erste Kraniche ausmache. Sie zog es wieder in den Norden. Waren sie nicht erst vor einigen Wochen in den Süden geflogen?

Hinter der S-Bahn-Station Wilhelmsruh ging es in eine dunkle, matschige Gasse. Nach guten 350 Metern öffnete sich der Bahndamm in Richtung Westen. Dort lagen die Lauben der Reinickendorfer, mich aber zog es weiter an den Fertigungsstätten auf der Ostseite vorbei. Zwischen den Baulücken eröffnete sich das Panorama  des Märkischen Viertels. Die Westplatte, als Symbol des Wohlstands direkt an die damalige Zonengrenze gesetzt. Im Berliner Stadtbild nun verzweifelt als letzter Rückzugsort beworben.

Spätestens im Berliner Wahlkampf, damals im September, als ich noch Gast und kein Bewohner war, sah man, was aus diesem Bezirk geworden war. Schon weit vorher hatte das MV zweifelhaften Ruhm erlangt, doch entlang der beschnittenen, vom Grünflächenamt zerstörten Plantanen, die im spätsommerlichen Licht verloren und mit kahlen Ästen zwischen den Laternen am Wilhemsruher Damm standen, hatte die NPD plakatiert. Deutsche Frauen wehrten sich, Parteivorsitzende gaben Gas und den heimkehrenden Fremden wurde freudig hinterhergewunken.

Einmal hatte ich mir das Treiben am Knotenpunkt Wittenau angeschaut und wenn es auch nicht der NPD-Realität entsprach, so war es einigermaßen verstörend. Frauen, die mit Kinderwagen an der Bushaltestelle stehen. Mit Kindern, denen man wünscht, niemals nur einen Tag älter zu werden. Sie waren ohne Chance auf diese Welt gekommen und mussten nun ein ganzes Leben durchhalten. Einige der Kinder würde es in die Scripted Reality ziehen, andere Kinder würden die Platte nur für einen Urlaub im Süden verlassen, sie würden mit 15 Vater und Mutter und dann mit Kinderwagen an der Bushaltestelle stehen. Diese Trost- und Perspektivlosigkeit hatte mich damals fasziniert. Sie bauen Hochhäuser, eröffnen ein Einkaufszentrum, setzen den Menschen Ämter vor die Tür und wollen nicht, dass überhaupt jemand aus dieser Welt ausbricht. Sie sperren die Menschen weg und niemand bemerkt es, hatte ich damals gedacht.

Ich wendete mein Blick vom Märkischen Viertel und bog in Richtung Nordgraben ab. Hin und wieder passierte mich ein Auto, schnell aber versteckte ich mich hinter dem Abwasserkanal und spazierte entlang des sogenannten Grünstreifens, der nicht mehr als ein Kackstreifen für die Hundehalter Reinickendorfs war. Nachdem ich einige Querstraßen überschritten hatte, eröffnete sich auf meiner rechten Seite ein kleiner Platz. Das Rathaus Reinickendorf. Ein funktionaler Bau, der einen kleinen Park überblickt. Ein paar Lichterketten zeigten die Jahreszeit an. Wenn es auch nach Frühling roch, so war es doch der 26. Dezember 2011.

Am Rathaus stieg ich in die U-Bahn, fuhr bis zur Seestraße und ging von dort zurück in den Soldiner Kiez. Aus den Dönerläden flimmerte N-TV. Manchmal saß dort ein Gast über einen Döner,  manchmal saß dort ein Gast Ayran trinkend. Auf der Koloniestraße spielten die Jugendlichen Fußball. Kevin-Prince Boateng hatte hier vor 10 Weihnachten Fußball gespielt, er war ihr großes Vorbild. Er war ihre Fluchtmöglichkeit. Im Fernsehen lief das Traumschiff. Die Kolonialserie zum Ausklang des Weihnachtsfests. Im Kühlschrank stand ein frischer Kasten Kronen.