In dem Supermarkt hinter dem Park testeten sie seit einiger Zeit ein neues Konzept. Wurden die Einkaufenden in meinen ersten Berliner Monaten noch von nicht sonderlich geschulten, dafür aber schwer trainierten Securitytypen in den Laden gelassen, so hatte sich die Geschäftsleitung seit einer Woche für eine wahre Freundlichkeitsoffensive entschieden.
„Das Konzept der Doormans hat sich bereits in anderen No-Go-Areas etabliert. Wir freuen uns, als erstes Unternehmen dieses Konzept nun auch auf Deutschland zu übertragen. Wir sind Marktführer und lassen uns nicht von aufstrebenden Supermärkten zurückdrängen“, ließ sich der stellvertretende Filialleiter Broszynski in der Lokalpresse zitieren. Doch nicht nur die Lokalpresse war auf die neue Freundlichkeit aufmerksam geworden, auch einige überregionale Medien waren auf den Zug aufgesprungen und berichteten verstärkt über die neue Freundlichkeit im Soldiner Kiez.
„Mit charmanten Doormans gegen Ladendiebstahl“, titelte eine der Zeitungen. Und „Wer begrüßt wird, klaut nicht“, beleuchtete ein anderer Artikel die Charmeoffensive des Supermarkts hinter dem Park. Der Supermarkt lag noch hinter dem Discounter und den Baumärkten. Es war ein weites, unfreundliches und durchgehende betoniertes Gelände. Grau war die Farbe der Stunde. Manchmal durchbrochen von braunen Imbissbuden und Obstständen. Auf dem Weg vom Discounter schlängelte man sich an einem türkischen Kulturverein und einem Kostümverleih vorbei. Danach öffnete sich ein weitere graue Fläche und ganz am Ende rechter Hand lag der Supermarkt.
Bislang war ich höchstens einmal dort gewesen. Mein Bier bekam ich überall. Mein Essen bestand aus Tiefkühlpizza aus dem Discounter. Aber das wollte ich mir jetzt doch einmal anschauen. „Unsere freundlichen Doormans begrüßen unsere Kunden per Handschlag, öffnen für sie die Tür und weisen bei Bedarf gerne auch noch einmal auf unsere Angebote der Woche hin. US-Studien haben gezeigt: Der Ladendiebstahl geht auf diese Art und Weise um bis zu 32,08% zurück. Behandelt man die Menschen wie Kunden und nicht wie potentielle Diebe, geben sie einem das in sie gesteckte Vertrauen in Form von Geld zurück“, hatte Broszynski in bereits oben zitiertem Artikel erklärt. Durchaus ein interessanter Ansatz. Mit charmantem Handschlag gegen Kriminalität.
Es bestand dringend Handlungsbedarf. Konnte die neue Freundlichkeit, die in etwa mit dem vorübergehenden Verlust meiner Wut einherging, auch mich als Kunden gewinnen? Gestern wagte ich den Selbstversuch. Zum ersten Mal überhaupt, beim ersten Mal war ich von der U-Bahn kommend einen anderen Weg gegangen, ließ ich den Discounter links von mir liegen, drückte mich zwischen Baumarkt und dem Discountergebäude hindurch, spazierte an einer türkischen Feiergesellschaft vorbei auf die nächste große graue Fläche.
„Hier ist der Mensch noch Kunde!“, wehte ein Banner über dem Eingang des Supermarkts. Ein interessanter Ansatz. Vor der Tür die Menschenschlange. Ich war nicht allein. Ich reihte mich ein, lauschte den Diskussionen der Wartenden. Sie sagten „endlich wieder Mensch!“ und „wer uns so behandelt, gehört auch bezahlt.“ Sie mussten in den letzten Jahren zahlreiche Erniedrigungen erfahren haben. Einige in der Schlange kamen gerade von einer Demo aus Mitte. Sie waren noch voller Energie. „Not my Präsident“ stand auf ihren Schildern. Sie hatten in Gauck eine neue Triebfeder gefunden. „Wir müssen protestieren! Er hat uns verhöhnt. Und wird uns aus unseren Kiezen vertreiben“, erklärte mir einer der Demonstranten. „Aber wäre das nicht sogar gut?“, warf ich ein. Doch bis auf wütende Blicke erntete ich nichts. Es war nicht ihr Präsident, und würde es auch nie werden.
Weiter vorne in der Schlange waren die Benzinpreise ein Thema. Es würde zu einem Tankstellenboykott kommen. Am 01.03. sei alles vorbereitet. Niemand würde tanken und es denen da oben aber mal so richtig zeigen. „Occupy Tankstellen!“, rief einer und die Schlange stimmte ein. Sie hatte sich in den vergangenen paar Minuten wenig bewegt. Immer noch stand ich sicher 30 Meter vom Eingang entfernt. Langsam begannen mich die Gespräche zu nerven. Das passiert also, wenn man den Mensch als Mensch bezeichnet, er lebt und er denkt, dachte ich mir. Noch bevor ich mich weiter aufregen konnte, brach ein Tumult aus. Mein neuer Freund schrie: „Not my Präsident! Er hat auch Euch verhöhnt! Occupy nichts. Gegen Proteste. Dieser Staat ist ein zutiefst faschistischer Staat. Wenn nur die Türken nicht wären!“
Jetzt ging es Mann gegen Mann. Oder eben Mensch gegen Mensch. Die Occupyanhänger stürmten auf meinen neuen Freund. Vom türkischen Kulturverein bewegte sich ein Mob in Richtung neuer Freund und die in der Mitte schlugen sich auf ihre eigene Seite und gingen auf die drei Parteien los. Immerhin gelang es mir so, langsam in Richtung Tür zu gehen. Der Doorman hatte einen hochroten Kopf und verweigerte mir den Handschlag. Als ich ihn drauf ansprach, antwortete er mir:
„Jetzt hör mir auf mit Deinem scheiß Handschlag! Jedes Mal dieser Handschlag. Das ist doch scheißegal. Wenn ich auf mich und die Idioten da sauer bin, da gebe ich halt kein Handschlag. Sind wir denn hier im Mädchenpensionat? Der Einkauf ist für Euch nicht so wichtig, wie dieser scheiß Handschlag.“
„Ist das eine vorbildliche Reaktion?“, fragte ich etwas verwundert.
„Ach hör doch mal auf, ich rege mich halt auch auf. Wir diskutieren nur über Handschlag und alle Nebensächlichkeiten. Und nicht mehr übers Einkaufen!“
„Dann lassen sie uns doch über die Angebote der Woche reden“.
Ich versuchte, das Gespräch wieder in geordnete Bahnen zu lenken, doch der Doorman hatte da längst seine Uniform abgestreift und sich dem Tumult zugewendet.