Als wir den Trötenverleih sahen, hatten wir seit unser Rückkehr aus Potsdam seit ein paar Stunden nicht mehr gesprochen. Jeder für sich. Alleine leben, alleine trinken. Wir waren in der Kneipe an der Grenzbrücke versackt. Ich hatte nur Augen für die fette Qualle von Pankow, die den Flipperautomaten seit meinem letzten Besuch sicher nicht aus den Augen verloren hatte. Sie stand dort, Regencape über nackter Haut und drückte die Knöpfe, hin und wieder hatte sie einen Fluch ausgestoßen und war dann wieder in ihren Flippertrancezustand verfallen.

Für Redermann schien das alles zu viel, irgendwann hatte er sich meinen Schlüssel geschnappt und war schon einmal vor. Ein paar Stunden später war ich zurück in der Wohnung, Redermann lag auf meinem Bett und hatte Coltrane bis zum Anschlag aufgedreht. Ich hatte mir einen Stuhl genommen, Coltrane gelauscht, Redermann beobachtet und still eine Zigarette geraucht. “Jazz, Jazz, Jazz!”, hatte ich laut gedacht und weiter Coltrane gehört. Immer wieder hatte ich die Worte “Jazz, Jazz, Jazz!” wiederholt. Sie hatten so vertraut geklungen, doch konnte ich mich nicht erinnern, die Worte “Jazz, Jazz, Jazz!” schon einmal in diesem Zusammenhang gehört zu haben. Irgendwann war ich über die ewige Wiederholung der Worte “Jazz, Jazz, Jazz!” eingeschlafen. Redermann weckte mich in der Früh. Wir schwiegen weiter. In den Tiefen meiner Sammlung hatte Redermann Bessie Smith gefunden. Jetzt also “A Good Man Is Hard To Find”.

Aber auch “A Good Man Is Easy To Kill”. Wie Kurosky mir damals am Bahnhof zurief: “You better make us big, fucking big or else…”. Da war die Tür schon lange zu und der Thalys auf dem Weg nach Paris. Von Beulah hatte ich danach nur noch gelesen. Sie hatten sich aufgelöst und Kurosky sich mit den Sorgen des Lebens rumgestritten. Aber das war früher und ein anderes Leben. Jetzt war Frühstück mit Redermann. Jetzt hatten wir gerade den Coup der Saison gelandet und hatten jeden Grund, voller Zuversicht auf die anstehende Rückrunde zu schauen. Am Ende des Tages, das hatte sich in den letzten Wochen wieder gezeigt, waren wir einfach nur ein paar Fans des besten Vereins der Welt, die sich mit ihrer Zeitung eine kleine Existenz aufbauen wollten. Die Ermittlungen gaben nicht viel her.

Als wir den Trötenverleih sahen, hatten wir also schon ein paar Stunden nicht mehr gesprochen und waren trotzdem die glücklichsten Menschen der Stadt. Und dann der Trötenverleih. Hier standen sie alle: Die Klangapparaturen in einem fast schon musealen Umfeld. Die Tröte und ihre Entwicklung. Die Tröte für jeden Zweck. Hätten wir das doch damals nur gewußt, oder hatten wir es gewußt. Mit der Zeit schwindet die Erinnerung, aber nicht die Begeisterung für Klangapparaturen. “Sauber! Schau mal hier, dat Ding mit dem Walkman dran. Das hat sicher schon ein paar Jahre auf dem Buckel”, sagte Redermann. “Lass ma ausprobieren”, antwortete ich und drückte auf Play. Irgendwer hatte da Wagner eingelegt, Bayreuth flog uns um die Ohren. Voller Ehrfurcht verbeugten wir uns vor der irrsinnigsten Tröte des Ladens.

“Monsterteil. Da fällt mir ein, Ernst. Neulich haben mich die Vögel von schwatzgelb  angerufen. Ich sollte mal wieder für die ermitteln. Ging um Reus. Und die Ausmusterung. Wie Piotr. Was denken die sich eigentlich? Haben sie dann im Glauben gelassen, dass ich mich drum kümmern. Saß aber da gerade in der Samenhandlung, der Stumpfe von vorne wollte Salbeisamen für die neue Saison zählen. Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf. Hab Zahlen dazwischen geworfen und er hat immer wieder von vorne angefangen. Den ganzen Tag habe ich mit Zahlen verbracht. Den ganzen Tag hat er mir zählen verbracht. Nicht gemerkt, dass es meine Zahlen waren, die sein zählen unmöglich machten. Es gibt wirklich ne ganze Menge Leute auf dieser Welt und viele dieser ganze Menge Leute sind wirklich nicht ganz wasserdicht, den Salbeisamenzähler rechne ich da auf jeden Fall mit rein.” Redermann schaute mich gelangweilt an. “Dembo, ich kann schon verstehen, dass Du keine Freunde hast. Und dass Du Dich jetzt in die fette Qualle von Pankow verguckt hast, macht die Sache nicht besser.” Ich fragte mich, ob ich ihm gegenüber die fette Qualle von Pankow als solche bezeichnet hatte und wie er das alles überhaupt bemerkt hatte. Vielleicht würde ich ihn das mal fragen, irgendwann. Die Tage. Wir gingen zurück in die Kneipe, die fette Qualle von Pankow war nicht mehr da. Noch 2 Wochen war Winterpause.