Nicht weit entfernt, irgendwo in der Nachbarschaft, wohnt der letzte Taubenvatter. Ab und an treffe ich ihn bei der Wentraud. Meist zu früher Stunde. Der Taubenvatter ist ein schweigsamer Mensch. Er steht dort, nimmt ein Gedeck zum Frühstück und schaut sich den Verkehr an. Anders als Kleppo jedoch wartet er nicht auf einen Autocorso, er steht nur dort und lässt den Verkehr fließen. Ich vermute, es sind die Bewegungen und die Gewissheit, dass manchen Dinge nie enden werden, die ihn immer wieder an diese Stelle ziehen.
Dann steht er dort mit seiner Schiebermütze, seinem Traininganzug und schweigt. Vorbeikommende Passanten ignoriert er, biegt man jedoch in Richtung Wentraud ab, tippt er kurz an seine Schiebermütze und verbeugt sich beinahe unmerklich. Vermutlich, denke ich, hat er seinen Seelenfrieden längst gefunden. Er hat seine Tauben, er liebt Konstanten und wahrscheinlich geht er jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit auf den Friedhof. Das Grab seiner Gattin wird in einem tiptop Zustand sein und er wird dort mit ihr Reden und vom Flug der Tauben erzählen und sich an die gemeinsamen Tage erinnern. Nicht verbittert, sondern im Einklang mit dem langen Fluß des Lebens.
Er wird sich an die guten Tage erinnern und ihr von seinem Leben allein erzählen. Es wird sich nicht viel geändert haben, denke ich, seine Einsamkeit wird sein Leben nicht auf den Kopf gestellt haben. Hin und wieder werden seine Kinder vorbeikommen und sich um ihn sorgen und doch wird er es nicht benötigen. Der Taubenvatter ruht in sich, ruht in seiner eigenen Welt. Nur einmal habe ich etwas länger mit ihm reden können, ich kam gerade aus der Kneipe, er stand schon dort, es war früh am Morgen. Ich hatte einen drin, er nicht. “Was machen die Tauben”, hatte ich ihm zugerufen und er hatte mir tatsächlich “ich lass sie gleich fliegen” geantwortet. Wir kamen ins Gespräch.
Er erzählte mir von seiner Frau, seiner Ehe, seinem Job auf Hoesch, den er bereits in der Stahlkrise in den 80ern verloren hatte. Danach seien sie nur noch auf Reisen gegangen, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war, sei es ein leichtes gewesen. Auf einmal waren seine Tauben weltweit begehrt und er trat weltweit auf Züchtertreffen auf, erzielte gerade im Osten Höchstpreise. Es sei ihm, so sagte er mir, trotzdem keine Freude gewesen. Klar, durch die Treffen und die Höchstpreise, die er für seine Tauben erzielte, habe er die Welt gesehen. Doch etwas hätte sich in der Zeit verändert, aus einem Hobby war ein Geschäft gewesen. Nach dem Tod seiner Frau habe er sich dann kaum noch aus der Nordstadt bewegt. Sein Geld hätte immer ausgereicht, doch nichts zog ihn mehr aus der Nordstadt weg.
“Mit meiner Wut und meiner Enttäuschung bin ich offenen Türe eingerannt, nichts hat mich mehr verwundert, nicht einmal das. Niemand wollte das Kaptial, niemand wollte sein Hobby verlieren. Doch mit eimmal war es ein Geschäft. Ich bin dann einfach daheim geblieben. Es fehlt mir nichts.” Einmal am Tag öffnet er heute noch seinen Schlag, erzählt er mir und schaut gen Himmel, “dann kreisen sie dort und drehen ihre Runden und irgendwann, es wird nicht mehr lange dauern, drehen auch die Tauben ihre letzten Runden.”
In den letzten Tagen habe ich die Tauben nicht mehr am Himmel gesehen, auch der Taubenvatter war schon längere Zeit nicht mehr bei der Wentraud.