So langsam ging es bergauf.
Der Zweifel, vom Dembowski seit jeher gesät, übertrug sich langsam auf die Beobachter. Es hatte den großen Knall gebraucht, das FIFA-Urteil, und es hatte die Marketingmaschine des DFB ebenso benötigt. Was ist noch echt, was kann man noch glauben? Das waren die Fragen, mit denen sich der Fußball im ausgehenden Jahr 2014 beschäftigte. Die Wand war mittlerweile nahe, und trotzdem drückten die Verantwortlichen weiter aufs Gas. Sie sahen sie, und erwarteten, dass sie sich wie von Geisterhand öffnen würde.
Natürlich: Sie hatten ihre Schlüssel dabei. Universalschlüssel für alle Probleme, wie sie stets betonten. Doch auch hier mehrten sich die Zweifel, die in Momenten der Klarheit ausgesprochen wurden. „Wir sind Teil der Unterhaltungsindustrie“, hatte Thomas Müller nach einem Champions League-Spiel in Moskau gesagt. Damals waren keine Zuschauer eingeladen, und nur die Sponsoren- und VIP-Tickets des Kontinentalverbands UEFA galten als Zugangsberechtigung. Ein paar Bayern-Fans saßen hoch oben in einem Bürohochhaus, und blickten auf die trostlose Arena Khimki hinunter.
Dieses Bild, diesmal ohne Fans im Hochhaus, sondern vor den Toren des Stadions wiederholte sich beim Gastspiel von Manchester City. Die UEFA fühlte sich nicht länger zuständig für die Nebendarsteller der Unterhaltungsbranche. Hatten nicht findige Südkoreaner längst den Fanroboter entwickelt? Es war der vorhersehbare nächste Schritt.
Die gut geölte Marketing- und Propagandamaschine des DFB lief ebenfalls auf Hochtouren. Wenn es nach der WM auch an Ergebnissen auf dem Platz mangelte, so war dieses zweite Halbjahr 2014 doch ein immerwährender Triumphzug. Ehrung reihte sich an Ehrung, Lob an Lob und der Zukunft zugewandt sagte Bundestrainer Joachim Löw perfekte Sätze über die Weiterentwicklung des deutschen Spiels. Oliver Bierhoff bemühte sich derweilen weiter um ein klinisch reines Bild der Nationalmannschaft, hing in manchen Interviews seinen Erinnerungen nach. Damals, hatte er erzählt, habe der DFB Zeitungen entfernen lassen, doch heute, so Bierhoff, waren sie machtlos gegen die Kommunikationshast, die mit den sogenannten sozialen Netzwerken einher ging.
Nationalspieler, und ihre mächtigen Agenturen, feilten an ihrem Image, und manchmal erwischte sich nicht nur Dembowski bei der Frage, ob hier noch ein Mensch sprach oder ob sein Avatar längst die handelnde Person war. Es ging um Ehre, es ging um Titel, es ging um Karrieren und natürlich jederzeit um Verträge, um den großen Plan. Kaum angekommen, mussten sie weiter. Immer höher, immer schneller, immer besser.
Christoph Kramer, der nach seinem schnellen Aufstieg zur deutschen Ikone zusehends von der Maschine verschluckt wurde, hatte dies in einem seiner letzten klaren Momente „Menschenhandel“ genannt, und Dembowski, zumindest er, es ihm auch abgenommen. Die sich anschließende Empörung hatte ihn umschwenken lassen, und neuerdings rahmte er sich das Interesse der Vereine ein. Natürlich, mit Real Madrid hätte er das höchsten Level erreicht, und es war eine gute Zeit für die Spieler der Mannschaft, wie man die deutsche Nationalmannschaft, nun in der offiziellen Kommunikation nannte.
Nun musste aus dem Namenszusatz Weltmeister Kapital geschlagen werden. Und das tat man. Auf die nächsten 500.000 Follower, die nächsten 1.000.000 Likes. Noch war Cristiano Ronaldo in weiter Ferne, der Endgegner noch nicht besiegt.
Auch die Bundesliga schrieb ihre Geschichten. Sie war nicht zum Mond aufgebrochen, versuchte aber immerhin den Rest der Welt zu erobern. Die Weltmeisterliga! Die fanfreundlichste Liga der Welt. Dortmund-Fans hatten es auf Bratwurst, Bier, Borussia runtergebrochen, und diese Geschichten, die bei den restlichen Vereinen nur andere Namen trugen, wurden jetzt weltweit auf dem Markt angeboten.
Da Russland aufgrund der politischen Entwicklungen zwar noch ein willkommener Geldgeber für so manch einen Verein und Funktionär war, aber sonst kein Zielmarkt mehr sein konnte, hießen die Sehnsuchtsorte der DFL im Jahre 2014 China, Südostasien und natürlich der langsam erwachende Riese USA. Entwicklungshelfer Jürgen Klinsmann hatte im Land selbst ganze Arbeit geleistet, und das 2013er Champion League-Finale den Rest getan. Borussia Dortmund durfte die Herzen, Bayern München den Rest und die Bundesliga endlich den TV-Vertrag gewinnen. Jetzt also FOX. Ab 2015/2016.
Die Geschichten des zweiten Halbjahres 2014, der ersten Saisonhälfte 2014/2015, drehten sich um den genialen Herrn Guardiola, der nichts anders als das in Deutschland so lange vermisste Superhirn war, und dessen verblüffende taktische Kniffe nicht nur die neu entstandenen Taktikblogs zu wahren Jubelarien veranlasste. Sie drehten sich auch um den Anerkennungskampf der vormaligen Plastikklubs, die auf dem Sprung an die nationale Spitze bereits von einer Weiterentwicklung, einer Perfektionierung der neuen Marketingscheinwelt, bedroht wurden. Mit RB Leipzig stand der echte neue Rivale der Bayern längst in den Startlöchern. Auch davon wurde erzählte, manchmal in bitteren Auseinandersetzungen, in denen die alten Erneuerer des Spiels, mit den 11 Freunden als Speerspitze, gegen die neuen Eroberer vergeblich probierten, ihre Stellung zu behaupten.
Der alte Norden der Liga mit den Hauptfiguren Werder Bremen und Hamburger SV stand kurz vor der Auflösung, der Osten war schon lange tot. Doch daran würde die neue Macht des deutschen Fußballs etwas ändern. Schon bald. So wie nach der Wende, denn niemand konnte 25 Jahre nach dem Mauerfall ohne diese Bilder auskommen, der Ostteil Berlins an dem alten Westteil vorbeigezogen war, so würde der neue, durchkapitalisierte Osten den alten, bedrohlichen Osten der Vereine Dynamo Dresden und Energie Cottbus hinter sich lassen.
Im Ruhrgebiet war es kalt geworden, zumindest im unbestritten hässlicheren Teil. Aber auch im schönen Teil des Westens, in der Ruhrkapitale Dortmund, ging die Sonne schon lange nicht mehr auf.
Der FC Schalke 04, einer der Vereine, die es nun nach China zog, da Russland keine Option mehr war, taumelte von Krise zu Krise, zerstritt sich, vertrug sich, vereinte sich im Kampf gegen geschasste Trainer und sprach manchmal sogar noch von der Meisterschaft.
Die war auch für den ehemals heißesten Verein Europas nicht mehr in greifbarer Nähe. Borussia Dortmund litt, und die Fans litten mit. In guten wie in schlechte Zeiten. Denn das war ihr Klub. Manchmal kam er der Sonne zu nah, verglühte beinahe und regenerierte sich im unteren Mittelfeld der Liga. In den 90ern waren es das Geld und die Gier, diesmal war es das Streben nach internationaler Anerkennung, das im allgemeinen Sprachgebrauch der „zweite Leuchtturm“ genannt wurde.
Der BVB hatte in den letzten Jahren einige Rückschläge hinnehmen müssen. Spieler waren ausgezogen, um in der Ferne ihr Glück zu suchen, dass sie eigentlich schon längst gefunden hatten. Aber es ging um Karrieren, es ging um Werbeverträge und darum, in diesem Spiel namens Fußball das nächste Level zu erreichen. „Ich habe nur eine Karriere. Ich muss den maximalen Profit aus ihr ziehen“, hatten diese Spieler gedacht und dabei manchmal ihr Glück nicht gefunden.
Mit dem zunehmenden Interesse der Bayern war aber auch diese Glückssträhne der Dortmunder gerissen. Mario Götze hatte bereits in seinem ersten Jahr sein Können angedeutet, und sich mit dem Tor in Rio unsterblich gemacht. Als Bayern-Spieler, als der er nun galt. Mit Lewandowski hatte der beste Stürmer der Dortmunder Vereinsgeschichte ebenfalls im Süden angeheuert, auch er würde sich durchsetzen, und somit blieb die letzte offene Frage, die nach der Entscheidung von Marco Reus. Würde er seinem, von seinen Beratern skizzierten Karriereplan folgen oder entschied er sich für eine paar Flüge in Richtung Sonne, die manchmal perfekt getimt waren, oder, wie es sich in der laufenden Spielzeit andeutete, durch Pech, durch eine vielleicht den Umständen geschuldete, ein wenig hastige Transferpolitik, manchmal wenig perfekt ablief?
„Wir haben die Wende geschafft“, hatte Neven Subotic angedeutet und dabei Christoph Kramer vergessen, dessen Eigentor von unendlicher Schönheit vielleicht wirklich der Dosenöffner war. Doch auch das blieb nur eine weitere Geschichte, eine für Dembowski natürlich sehr persönliche Geschichte.
Wir sehen den Ermittler am Tresen seiner Lieblingskneipe. Hauke Schill, sein Wirt und Freund, schiebt ihm ein Bier rüber. „Alle korrupt“, sagt Schill, dessen HSV irgendwann im Schlund der Vergessenheit landen würde. An diesem Abend, an dem sie das Ende der Welt bejammern, ist Helene Fischer ihr Soundtrack. Und im Fernseher sehen sie erst Bilder einer Hooligan-Demo, dann Wolfgang Niersbach und später schauen sie sich gemeinsam das Putin-Interview in der ARD an.