Irgendwie waren ein paar aktuelle kicker-Ausgaben im Unterwasseraquarium gelandet. Eine Abwechslung, nach all den detaillierten Beschreibungen des fremden EM-Elends. Endlich Fachpresse. Endlich die fundierten Reaktionen der Redaktion des einzigen Fußballwochenblatts Deutschlands. Für einen Moment, für einen kurzen Moment liebte ich Tomasz für seine Umsicht. Er hatte mich eingesperrt, doch er hatte genug Verstand, in dunklen Momenten meine Stimmung aufzuhellen. Der kicker. Wo hatte ich ihn nicht schon überall gelesen?
Auf Fahrten durch Deutschland, in den Wannen, in denen ich mich erholte, in der Tram, auf Wiesen liegend. Ich hatte die Ausgaben archiviert, mir Tabellen angelegt, mich später dann in die Statistiken vertieft. Die Ewige Tabelle der Bundesliga. Wenn jetzt und dann noch die. Und schon war der BVB innerhalb weniger Jahre in den Top 5! Ein paar Jahre hatte der kicker den Rhythmus meines Fußballlebens vorgegeben. Dann kamen Libero, dann kamen die 11 Freunde und wenig später das Internet. Online, das schrieb ich bereits, war ich noch dabei und die Donnerstags-Ausgaben kaufte ich mir immer noch. Aber etwas war passiert, manchmal konnte ich es benennen, meist aber war es nur ein vages Gefühl.
Doch in letzter Zeit häuften sich die konkreten Gründe, immer weniger schenkte ich dem dort Geschriebenen Beachtung. Natürlich, ich hatte mich auf DerSamstag! eingelassen, doch war es somit nicht auch meine Pflicht, die Konkurrenz im Auge zu behalten. Reiser verfolgte ich doch auch aus mehr als aus dem Augenwinkel. Doch alles hatte seine Zeit. So auch der kicker, das reaktionäre Gegenstück zum Magazin der Hornbrillenträger. Beides war schon lange nicht mehr mein Verein. Mein Verein war DerSamstag! Und doch konnte ich meine Freude kaum zurückhalten. Endlich: Der kicker! Mit der Donnerstagsausgabe.
Hier unten im Unterwasseraquarium bekam ich zwar viel mit, aber natürlich beschränkte ich mich bei meinen Recherchen auf die für mich relevanten Spiele. Alles andere wäre zu viel Arbeit gewesen. Da war der Überblick gut. Bislang hatte ich die Italien-Gruppe vernachlässigt. Mich zwar am Gesang der Iren erfreut, aber nicht tiefer in die Gruppe geblickt.
Cassano wieder, dachte ich bei der Überschrift „Attacke mit Cassano“. Was dann folgte war ein wahnwitziger Ritt durch eine Pressekonferenz mit dem Coatto, der immerhin bereits 600 Frauen flachgelegt hatte. So viel hatte ich in meinem Leben noch nicht getroffen. Aber er war Fußballer, ich war Ermittler. Das konnte sein. Und für mich nicht sonderlich erstrebenswert. Die Frau als Objekt, den Kabinennachbar mit Problemen. So er denn schwul war. Allein die Frage danach, so der namenlose kicker-Autor sei natürlich „deplatziert“ gewesen. So etwas habe, dachte sich der namenlose Autor, sicher nichts auf einer PK bei einer EM zu suchen. Homophobie im Fußball? So etwas gibt es nicht. Auch nicht auf der Südtribüne in Dortmund, erinnerte ich mich an das große Missverständniss im März, als eine Dortmunder Ultra-Gruppierung sich vielleicht unglücklich, aber in keinster Weise in homophober Art und Weise mit einem lustigen Banner zur Wort gemeldet hatten. Damals war das innerhalb der Dortmunder Fanszene keine weitere Kommentierung wert und diesmal, das beschloss der kicker, der den Ultras also näher stand, als er es in seinen herablassenden Kommentaren die Saison über zugeben wollte.
Denn natürlich, ging der Text über Cassano weiter, lag der Fokus „glücklicherweise auf dem zentralen Aspekt Sport und Azzuri“. Dort konnte Cassano zeigen, dass er „dem Ruf des Enfant Terribles“ entkommen war. Cassano wurde, schrieb der kicker, ganz nachdenklich als er über seine Zeit zwischen Leben und Tod und also seine Herzoperation im März sprach. Kann ein Mensch, der eine Herzoperation hinter sich hat, schlechte Gedanken in sich tragen? Nein, argumentierte der kicker. Immerhin habe Cassano sich entschuldigt. Die DES hatten sich damals im März auch entschuldigt. Es gibt nichts, was ich nicht sehe, dachte auch ich jetzt, schmiss den kicker gegen die Wand, nahm mir noch ein Bier, fragte Tomasz, was er davon halte. „Idioten“, war seine Antwort. „Wie soll das jemals gut gehen?“. Immerhin waren wir hier mal einer Meinung. Fußball war die letzte Bastion der Schwulenfeindlichen, und der kicker, der so gerne dramatisierte, liebte die heile Welt, die auch Frank Lußem in seinem eher witzlosen EM-Blog hinaufbeschwörte. Dort irrlichterte er durch die EM, will den mahnenden Zeigefinger nicht heben, da Bengalos und Flitzer niemand sehen will, die Presse ohnehin alles rausbekommt, solange sie nicht in Flugzeugen festgehalten wird und so weiter und so fort. Es war deprimierend und für mich an der Zeit, das mit dem kicker noch einmal zu überdenken.