Vielleicht war es an der Zeit für einen anderen Verein. Ich war mir längst nicht mehr sicher. All die vergeblichen Hoffnungen, die ich zu Schill reingetragen, und dort in Enttäuschung umgewandelt hatte. Ich hielt es beinahe nicht mehr aus.
Dazu die Entfremdung, die mich immer weiter von der Borussia, wie ich sie in den vergangen Jahren geliebte hatte, fortspülte.
Es war ein anderer Verein. Nicht mehr mein Verein?  Zumindest nicht mehr der, den ich noch vor wenigen Monaten gegen alles verteidigt hatte. Wir hatten uns verändert. Die Borussia, der Ermittler, die Fans.
Wir waren andere Wege gegangen, und der Abstand hatte sich vergrößert. Immer wieder sang ich, ohne es zu bemerken, „komm mir nicht mit diesen Verschwörungstheorie. Ich weiß, alles was sie wirklich interessiert, sind Posts und ihre Frisuren.“ Das Wissen machte es nicht leichter.
Einige BVB-Fans hatten längst wieder eine Wagenburg um den Verein errichtet. Wer nicht für uns ist, sagten sie, ist unser Feind und wird auch so behandelt. Sie verteidigten die Borussia gegen alle Kritik, hinter der sich ohnehin nur Kampagnen oder Rachegelüste verbargen.
Dortmund, das hatte sogar Aki Watzke gesagt, hatte im Erfolg keine Fehler gemacht, und, auch wenn diese Aussagen durchaus kontrovers diskutiert wurden, so oblag das Diskussionsrecht ausschließlich den Fans, und nicht den Medien, die mit diesen billigen Mitteln selbst hofften aus ihrer existenzbedrohenden Krise herauszukommen.  
Auch deswegen zog es mich in den vergangen Wochen längst nicht mehr ins Westfalenstadion, sondern eben nur noch zu Schill, meinem einsamen Freund. Doch auch war ich wie gelähmt. Die Lamafarm spielte keine Rolle mehr. Was machte Dörte, was machte Koi? Jetzt, da der Winter kam.  Jetzt am Welt-Lamatag, den ich eigentlich immer hatte auf der Farm verbringen wollen.
Ich ging fremd, besuchte andere Stadien.
Ob sie mir was geben konnten? Doch in Gladbach wurde ich enttäuscht, und dass ich in Gelsenkirchen nichts finden würde, war mir bereits vorher klar. Aber ich ließ mich gerne in meinen Vorurteilen bestätigen, sah unter der Woche die 0:5 Niederlage in der Champions League. Sie ließ sogar das am nächsten Tag folgende Debakel bei Arsenal in einem anderen Licht erscheinen. Es ging immer noch tiefer, es ging immer noch dramatischer.
Also blickte ich weiter. Einfach in andere Ligen schauen, wenn die Kraft der Erneuerung der oberen Ligen, wenn der Weg zu den wenigen europäischer Superklubs nur über die Verdrängung funktionierte, so wollte ich mir Kraft der Erneuerung unterhalb der ersten Liga anschauen. Dort war sie zerstörerisch, dort drängte sie die schwachen Klubs an die Seite, vernichtete sie. Wollte ich das sehen?
Vielleicht, dachte ich, sollte ich es einmal mit RB Leipzig probieren.
Wenn all der Widerstand gegen den modernen Fußball ohnehin ins Leere läuft, wenn all die Rufe nach Bewahrung der Verhältnisse, nach einer Schubumkehr letztendlich immer ziellos waren, sollte ich da den sogenannten Fortschritt nicht einfach akzeptieren?
Nein!
Das Familienerlebnis Fußball. Die Hochleistungszentren. Die ausgefeilten Taktiken. Die neuen Trainingsmethoden. Die analytischen Fähigkeiten der Protagonisten des Geschäfts. Der Footbonaut. Die große Show! Echte Liebe international! Mia San Arsenal und Messi gegen Ronaldo! Im Winter nach Katar, im Sommer nach China. Russland ist zu heikel. Und bald erobern wir die USA! Die beste Liga der Welt! Die besten Fans der ganzen Liga. Echtes Marketing!
Nein!
Meine Leidenschaft für das Spiel Fußball war nicht in der Gier nach „immer noch mehr“ begründet. Was war der Sinn dieses Strebens? Es war ein Spiel, eines von hoher gesellschaftlicher Relevanz, zugegeben, aber musste es deswegen noch korrupter, noch kaputter, noch kapitalistischer sein? Wieso? Und wo war der Sinn? Ich konnte keinen finden. Nur das Geld, die Gier, den Größenwahn.
Nur war das der Grund, warum ich mich in das Spiel verliebt hatte?
Nein! Echt jetzt!
Was ich jedoch feststellte: Das ganze Fußballgeschäft war zu einem traurigen Abziehbild der Gesellschaft des frühen 21 Jahrhunderts verkommen. Es war der Kampf zwischen denen da oben und uns da unten, und auch der Kampf von uns da oben gegen die da unten. Mit all seinen Auswüchsen, die nicht nur in mir noch nur Zynismus hervorriefen.
„Wie soll der Fußball im Jahre 2022 aussehen?“
Das war die zentrale Frage, die über den letzten Monaten stand. 2022 würde die FIFA Weltmeisterschaft in Katar ausgetragen. Und dieser Fakt hatte nicht unbedingt Begeisterung hervorgerufen, aber doch ging die Ablehnung der Spielfiguren immer nur bis zu den Eigeninteressen.
Wir saßen da und schauten die Spiele der Gazprom Champions League, wir bewunderten Messi, der in seinem Katar-Trikot von Rekord zu Rekord eilte, und beruhigten unsere Zweifel, indem wir Interviews von Reinhard Rauball lasen. Wo wir waren, war richtig und wer und mit wem wir waren definierten wir immer wieder neu. Unsere festen Standpunkte trieben ohne Verankerung im Sturm der Zeit.
Es war bedrückend, vielleicht zog aber auch nur ein neuer schwarzer Nebel auf, der sich wieder über meine Seele legen würde.
Ich beschloss, Schill von meinen Sorgen zu erzählen.
Als ich in die Kneipe kam, saß er gekrümmt an einem Tisch, trank ein Tee und aus der Jukebox erklang ein 70er-Jahre-Schlager. 

Das Schiff der großen Illusionen fährt langsam in die Nacht hinein. Mit Worten, die im Wind verhallen, hol ich es nie mehr wieder ein.

Ich sah, dass es hoffnungslos war. Nicht nur für mich, sondern auch für Schill. Und wir schauten gemeinsam das Spiel der Dortmunder und Borussia war Letzter und Hamburg war Vorletzter. Doch das war nicht unsere Sorge. Und so tranken und zweifelten wir drei Tage lang, bis es draußen schneite und jemand an die Tür klopfte und um Zutritt bat.

Es war ein älterer Herr mit einem Labrador. „Er wird es nicht mehr lange machen. Haben Sie ein letztes Leberkäsesemmel?“ Und Schill ging nach hinten, um dem Herrn seinen Wunsch zu erfüllen. Aber als der Wirt zurückkehrte, war der Hund bereits tot.