Ich habe dann doch die Wohnung verlassen. Sonst aber ging es einfach so weiter. Ich saß draußen vor dem Oldie-Eck und auch wenn es nicht sonderlich warm war, so erklärte ich Sybille also auf einer Biergarnitur vor dem Oldie-Eck sitzend meine Idee vom Leben und seinem Sinn. Lange hatte ich schon nicht mehr drüber nachgedacht, doch das Wochenende hatte mich dermaßen runtergezogen, dass mir sogar bereits Preise als „weinerlichster Fußballfan Europas“ verliehen wurde. Wenngleich ich das Unternehmen dahinter nicht kannte, so würde ich den Preis natürlich annehmen und ihn zu meinen anderen Auszeichnungen stellen. Das Unternehmen dahinter aber kannte meine Beweggründe nicht und so würde ich die Auszeichnung zwar annehmen, mir jedoch weiter keinen Kopf mehr um die lächerliche Bezeichnung machen. Es waren die Neider. Die, die sich erhöhten, um am Ende tiefer fallen zu können, die solche Preise verliehen. Der Ermittler, und das war immer noch ich, blieb ein Spitzentyp.
„Aber eben nur ein Spitzentyp in einem Meer von Existenzen“, erklärte ich Sybille und fuhr fort: „Wir werden geboren, wir wachsen auf, wir werden erwachsen, manch einer von uns eher später als überhaupt, nehmen uns mal wichtig, hin und wieder kommt uns der Sinn abhanden und doch streben wir weiter. Wir sammeln Wissen, wir sammeln Erfahrung und geben unser gesammeltes Wissen und unsere gesammelte Erfahrung weiter. Wir wissen nicht, wohin das führt, doch wissen wir, dass nur unserer Erfahrungsschatz dazu führen kann, dass wir als Menschen auch in Zukunft weiterbestehen. Einer von uns ist vielleicht Forscher, der andere, nehmen wir mich als Beispiel, ist vielleicht Ermittler. Und sie alle sammeln und sammeln und, wenn wir gut drauf sind dann sortieren wir unsere Erkenntnisse, behalten die Wichtigen und vergessen die Unwichtigen. Wie wir unterscheiden können, fragst Du? Das kann ich Dir nicht sagen, und das ist sicher auch ein Problem. Erst Jahre später stellt sich ja raus, was wichtig und was unwichtig ist. Aber manchmal gelingt das. Es geht auf jeden Fall nicht darum, was Du in Deinem Leben tust, sondern darum was Du in Deinen Leben erfährst. Da habe ich den klassischen Weg eingeschlagen. Bin gleich Ermittler geworden. Und während ich so über die Unmöglichkeit der Ermittlung erzähle, Sybille, hinterlässt gerade jemand sein gesammeltes Wissen, und das ja immer, ohne es überhaupt zu bemerken. Das Leben ist ein absurde Ansammlung gemachter Erfahrungen und die Erfahrungen vom Wochenende kann ich einfach nicht einordnen. Sybille, hörst Du mich?“
Sybille hatte die Augen geschlossen und sich lang auf der Bank ausgestreckt. Mein Monolog musste sie langsam in Richtung Schlaf befördert haben. Vielleicht war ich einfach zu niedergeschlagen, um überhaupt mit Menschen zu kommunizieren? Ich blickte in den Himmel, sah den Flugzeugen nach, die seit Tagen bereits über dem Oldie-Eck in den Himmel schossen. Nicht mehr lange. Der 2.Juni 2012 kam immer näher, somit auch das Ende des Flughafens TXL. Vielleicht deprimierte mich auch das. Alles ging zu Ende. Alles ging auf einmal zu Ende. Die Saison war so gut wie vorbei und die Flugzeugbeobachtungen würde ich auch vergessen können. Alles ging vorbei, alles hatte bald ein Ende und ich war erschöpft und ziellos. Darüber hinaus hatte mir niemand zu meinem Geburtstag Ende April, genauer am 30.April, gratuliert. Ich war nun 36. Die 40 kam immer näher. Und nichts hatte ich erreicht. Das gab mir kein gutes Gefühl. Wenn also Flughafenschließung, Saisonende und das totale Vergessen meines Geburtstags so nah beieinander liegen und ich mich dazu ganz langsam auch in Sybille verliebte, obwohl ich mich dagegen wehrte, musste ich meine Niedergeschlagenheit wohl akzeptieren. Sybille hatte immer noch die Augen geschlossen, ich blickte noch immer in den Himmel und vermisste die Flugzeuge bereits jetzt.
Mein Pathos ging mir gehörig auf den Sack. Mit Sybille schien es jetzt aus, meine Pläne für den restlichen Tag waren dahin. Sie würde nicht mit mir in die Wohnung kommen, die ich in einem Anfall von Langeweile sogar erstmals seit langer Zeit ein wenig aufgeräumt hatte. Sie würde zurück in die Klinik gehen. Ich hatte beschissene Wochen hinter mir und noch beschissenere Wochen vor mir. Der Ermittler würde überleben, aber wie. Gerade also als ich mich um Kopf und Kragen geredet und auch gedacht hatte, bog der Wagen vom RBB um die Ecke. Uli stieg aus, rannte mit dem Mikro auf mich zu und ich dachte nur: „ich bin in Gefahr“. Doch noch bevor ich aufspringen und wegrennen konnte, rammte er mir das Mikro ins Gesicht. Ich verstand überhaupt nicht, was er da erzählte. Nur die Worte Fluglärm und bis August. „Bis August bin ich am Arsch. Ich brauche die Flugzeuge. Ich kann ohne sie nicht sein!“ Die Kamera hielt direkt auf mein Gesicht, ich konnte meine Tränen kaum verbergen. Aber Uli schaute mich nur an und sagte: „Der Flughafen Tegel bleibt!“ „Er bleibt?“ „Ja, und was sagen sie jetzt dazu?“ „Verdammt, das sind die besten Nachrichten seit langer Zeit!“ Uli strahlte und nickte mir zu: „Perfekter O-Ton“ und zu seinen Kameramännern „wir fahren weiter. Hier wird das nicht mehr besser!“
Sybille hatte noch immer ihre Augen geschlossen, doch sie war mir jetzt egal. Ich sprang auf, rannte zur Wohnung, schaltete den Fernseher ein. Dort saß Wowereit und sagte: „Dies ist kein guter Tag für die Bürger unserer Stadt!“ „Denkste! Natürlich!“, schrie ich ihn an. Der Brandschutzbestimmer hatte soeben meinen Sommer gerettet. Das Pokalfinale stand vor der Tür. Worum ging es noch einmal im Leben? Na klar, um Borussia!