Als alles andere gesagt war, fingen sie an, die Regeln des Gentlemen-Sports aus der Tasche zu ziehen. Das verstaubte Handbuch musste in zahlreichen Schubladen geschlummert haben. Erst wagte sich ein Fanzine vor und schon bald zogen Reiser & Co nach. Irgendwas musste man nun noch schreiben und das was Subotic da gemacht hatte, ging ja auch überhaupt nicht. Und dann noch Großkreutz, dessen Namen sie beharrlich falsch schrieben, denn natürlich darf man einen Menschen als Auswurf bezeichnen, wenn es gerade passt, aber sich zu freuen, sich auf seine Art zu freuen, das durfte man nicht, schrieb zumindest das Handbuch des freundlichen Gewinners. Der Boulevard und seine Fanzineabklatsch langweilten mich zu Tode. Manchmal schlief ich sogar über die Artikel ein. Und wenn ich mich auch damit beschäftigte, so geschah dies ausschließlich aus dem Grund, da ich nach dem Sieg die Artikel in mich hineinfraß. Bis auf ein paar Ausnahmen waren sie nicht erhellend.
Was mich am meisten ärgerte, jetzt redeten sie auf einmal von der Wachablösung. Sie hatten sich noch im November für den Nestbeschmutzer DerSamstag! geschämt, ihn eine Schande für das seriöse Journalistentum abgetan. Sie schämten sich ihres Opportunismus nicht und hielten sich mit den Artikel über die unfairen Gewinner noch ein Hintertürchen offen. So ging Journalismus 2012, und so würde es immer gehen und so war es wahrscheinlich schon immer gegangen. Nicht zu ändern. Nun hatte ich aber weiß Gott bessere Sachen vor. Ich wollte nicht den ganzen Tag in Zeitungen blättern. Bereits Mittags hatte ich eine Verabredung im Roten Rathaus. Der DFB-Pokal sollte übergeben werden, Nerlinger und auch Watzke anwesend sein. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Doch im Saal schlich ich gelangweilt zwischen den Gruppen ebenfalls sich zur Tode langweilender Kamerateams hin und her. Schnell war klar, dass hier überhaupt nichts passieren würde. Vielleicht würden sie eine Seifenblase in den Himmel jagen und alle würden es filmen. Immer schneller und immer uninteressanter. Auf der Bühne sagten die Protagonisten der Veranstaltung ihre Allgemeinplätze auf, das eingeladene Publikum klatschte frenetisch. Es gab überhaupt kein Grund. So saß ich dort und schlug die Zeit kaputt. Sie wehrte sich heftig, doch am Ende hatte ich gesiegt und die erste Gelegenheit zur Flucht ergriffen.
Um mich ein wenig abzulenken, denn manchmal kann Fußball wirklich intensiv und zeitfressend sein, spazierte ich Unter den Linden entlang, nahm mir einen Kaffee auf die Hand und beobachtete am Brandenburger Tor die Touristenmassen, die sich an diesem grauen Tag an ihren Reiseführer hielten und die Highlights der Hauptstadt abarbeiteten, wie man so sagt. Weiter ging es Richtung Siegesäule und von dort zum Zoo. Ich malte mir aus, wie dieser Ort am 12.05.2012 von den schönsten Farben der Welt dominiert sein würde. Ich spürte , dass es ein sonniger Tag werden würde und dass wir auch den fünften Sieg über die Bayern einfahren würden. Nicht weil ich es so wollte, sondern weil es eine ganze Stadt so wollte. Wieder und wieder dachte ich, bald durch Moabit laufend, über Fußball nach. Wir wachsen auf und haben keine Wahl, überlegte ich mir.
Das Blut Dortmunds ist schwatzgelb und irgendwann gehen wir zum ersten Mal ins Stadion und dann lässt es uns nicht mehr los. Es ist egal, dachte ich, was bei unserem ersten Stadionbesuch im Stadion passiert. Es ist immer das erste Mal und das erste Mal ist zu jeder Zeit das überwältigenste Ereignis unseres dann ja meist noch jungen Lebens. Wenn wir dann nach Hause kommen, kennen wir jeden Spieler, wissen alles über die Geschichte des Vereins, kennen seinen Helden aus längst vergangenen Tagen. Es muss eine Speicherkarte sein, dachte ich, die wir durch unseren ersten Stadionbesuch aktivieren.
Eine Speicherkarte, die auf das geballte Wissen, auf all die Gefühle und Empfindungen vorheriger Generationen zurückgreift. Eine Speicherkarte, die bis an unserer Lebensende gierig nach Informationen, Emotionen und Ereignissen sucht, nur um diese dann für unsere Kinder abzulegen, und sie ihnen dann beim ersten Stadionbesuch zuspielt. Was wären wir, dachte ich, und was wäre ich nur ohne den Ballspielverein. Ich dachte an meinen Vater, wie er mich zum ersten Mal ins Stadion mitgenommen hatte, und wie ich dort zwischen meinem Vater und meinem Opa saß. Es war ein Bayern-Spiel, es ging in die Hose. Es war egal gewesen. Seitdem war nichts mehr so wie vorher.
Mittlerweile saß ich am Plötzensee und wenn ich so weitergehen würde, dachte ich, würde ich wahrscheinlich irgendwann am Tegeler See landen. Noch ein paar Tage würden sich dort die Flugzeuge über dem Wasser langsam erheben und an anderen Tagen auch im Sinkflug zur Landebahn hinabgleiten. Eine der letzten großen Reisetrupps würde die Mannschaft aus München sein. Am 13.05.2012 würden sie in den Berliner Morgen starten und ich unten auf dem Balkon meiner Wohnung im Soldiner Kiez stehen und ihnen ein letztes Mal winken. Sie hatten es sich verdient. Immerhin waren sie im DFB-Pokal bis ins Endspiel gelangt. Als ich nach Hause kam, legte ich Mutter auf. Sie spielten das Lied vom schönsten Platz im All.