Was war das? Wir waren doch nur kurz beim Zauberer? Redermann hatte noch erzählte, der Zauberer sei einer von uns und war dann in den Spätkauf gegangen. Ich hatte mir Notizen gemacht, den Verkehr auf der Kreuzung beobachtet, den Autos auf der zweispurigen Ausfallstraße zugesehen. Wohin sie fahren, woher sie kommen, was sie so machen, was sie denken und wie das alles zusammenhängt. Gedanken, die nach langer Fahrt und nach langer Isolation sicher nur die logischsten Gedanken sind. Für einen, wenn auch nur den kürzesten Moment, sogar hatte ich: „Dembowski, wer ich wirklich bin“ vergessen und war auf einmal Teil der sich ewig bewegenden Masse in Richtung Westen, des nicht endenden Stroms in Richtung Osten geworden. Ich war in ihnen und vernahm ihre Lieder, sie waren voller Schmerz gewesen und zielten auf die Quelle eines nie versiegenden Glücks. Dieses Lied, hatte ich gedacht, diesen Choral werden die Menschen bei der endgültigen Ausrufung des Weltfriedens vernehmen. Nur einmal. Dann wird die Erde sich nicht weiterdrehen. Ein Choral, der so unendlich schön und vielstimmig der Menschheit auch ihre letzte Kraft rauben würde.

„Alter, Dembowski! Schalt mal Deinen Melancholie-Modus aus. Ist ja unerträglich. Dachte, den hätten die Dir da ausgetrieben. Wenn Du Dich nur anschauen könntest, furchtbar!“ Redermann hatte mir einen Taschenspiegel gereicht. Und Recht. Unerträglich menschenfreundlich hatte ich daher geschaut, nachdem meine Gedanken den Choral der vorbeifahrenden Autos aufgenommen hatten. Und auf einmal waren wir weg gewesen. Nicht für einen Moment, sondern für längere Zeit. Also nicht weg im Sinne von nicht mehr da, sondern eher im Sinne von nicht mehr hier, wenn das überhaupt alles noch zu verstehen ist.

Der Zauberer hat einen Vorgarten, dort sitzt man und redet und schaut und hört den im Vorgarten Sitzenden beim Lachen zu. Es ist meist die gekünstelte Lache der Einsamen. Die Lache der, die den Choral niemals vernehmen werden, hatte ich gedacht, noch während Redermann mir den Taschenspiegel vorgehalten hatte und ich vor meinen eigenen entglittenen Gesichtszügen zurückgeschreckt war. Das ist nicht der Dembowski, wie er wirklich ist, hatte ich gedacht und war Redermann gefolgt, der mir bedeutet hatte, endlich aus meinem Beobachterposten hinein in die Welt zu gleiten. Doch die Welt des Redermanns war nur die Welt des Zauberers gewesen, der eben auch einer von uns – oder besser: von denen, zu denen ich ab jetzt gehören sollte! – war.

Aufstehen, reingehen. Der Spätkauf ist wieder nur ein Hotel gewesen. Hinter der Toilettentür steht dort ein Tonmaulwurf. Immer noch. Immer und zu jeder Zeit, wie mir Redermann erklärte. Ein Knopfdruck. Der Beton verschiebt sich und macht den Weg zu einer weiteren Station frei. Wieder lange Gänge, Abzweigungen, Blätter an den Wänden, die den Weg bedeuten sollen, aber nur Verwirrung stiften. Die Beschallung lässt, anders als im Unterwasseraquarium, zu wünschen übrig. Endgültig im Klaus-Lage-Land angekommen. „Ernst, wie hältst Du das aus?“ „Dietfried, so oft bin ich nicht hier. Ich muss Dir das hier zeigen. Du hast die Eingabe beantwortet, zur vollsten Zufriedenheit von Tomasz und Piotr. Du hast diesen Laden vor dem Auseinanderfliegen bewahrt und dafür sollst Du sehen, was Du überhaupt vor dem Auseinanderfliegen bewahrt hast. Du musst Dich öffnen, und endlich Deinen Modus verlassen. Die Welt ist nicht gegen Dich, Du bist gegen die Welt. Das ging mir auch so. Aber die Welt ist ohnehin nicht die Welt, die Du siehst.“ Wir durchstreifen die Gänge.

Planlos. Scheinbar. Es steigt an. Das merke ich. Langsam. Aber eben doch. Redermann ist schon wieder beim Verein und beim großen Boss. Er erzählt mir von seinen großen Ermittlungsplänen, die er, der neue Ermittler anstelle des Ermittlers, in den letzten Wochen, in den Wochen seit seiner Ernennung, die er mir letztendlich als unter die anderen Unterlagen gemischten Eingabe präsentiert hatte, geschmiedet hat. „Alle anders machen. Dem Affen Zucker geben. Mehr Lieder. Mehr Leidenschaft. Diese Abgefucktheit hat doch nur genervt. Erst einmal eine zünftige Tour. Das Herz der Meisterschaft suchen. Das hast Du nie gemacht, Dembowski. Dabei hast Du Dich nur ein paar Meter daneben bewegt, aber Du warst zu sehr mit Deiner eigenen Abgefucktheit beschäftigt! Hast Dich von Reiser und Martin ausnehmen lassen. Okay, die Sache mit Ritchie und Kleppo, die Sache war top. Aber auch ein trinkender Ermittler findet mal ein Korn. Genug davon. Schau!“ Hinter der nächsten Kurve breitet sich wieder eine Panzerglasscheibe aus.

Diesmal stört kein Wels, kein Algenmeer das Panorama. Unter uns breitet sich die Stadt aus. Es ist beeindruckend. Wir sind nicht einmal im Herzen der Station. Wir sind einfach nur da über der Stadt. „Redermann, was jetzt?“ „Schau es Dir einfach an. Kein Tunnelblick mehr!“