Diese Stimme. Diese Verachtung in der Stimme. Diese verachtende Arroganz in der Stimme. Diese arrogante, verachtende Weinerlichkeit in der Stimme: „Zu Verhandlungsdetails, da müssen Sie Verständnis haben, dürfen wir nichts sagen. Aber die Laufzeit ist eindeutig zu lang. Die Fahrgäste sollen rechtzeitig informiert werden und sich über alternative Reiserouten informieren.“ Der Verdi-Sprecher hatte gesprochen. Kurz bevor die Gewerkschaft einen Streik ausrief. Einen BVG-Streik für den nächsten Samstag, den Tag, an dem 18.000 Borussen in die Hauptstadt einfallen werden. Den Pokalfall im Ligaspiel proben. Schon einmal schauen, ob diese seltsame Kirche am Ku’damm noch steht. Schon einmal schauen, ob Berlin wieder die schönsten Farben der Welt tragen will.
Die Hertha lag am Boden und es mutete wie ein von langer Hand geplanter Akt der Stadt an. Wenn schon so viele Menschen in unsere Stadt kommen, um unseren Verein in die Nähe des Abgrunds zu schießen, so müssen wir alles dran setzen, ihnen den Aufenthalt so unangenehm wie nur möglich zu gestalten. Ein BVG-Streik ist da sicher keine schlechte Idee, dachte ich. Ich hatte die endgültige Nachricht den U-Bahn-Nachrichten entnommen. Auf dem Weg in die Stadt. Berlinalepeople schauen. Den roten Teppich begehen. Ausgerollt für die wichtigen Personen der Illusionsindustrie.
Die Reise war an dieser Stelle für mich beendet. „Nie wieder BVG!“, schrie ich am Rosenthaler Platz die Stufen zur Mittelebene herauf schreitend. Die Punks am Geldautomaten schauten mich verstört an. „Wieder einer weniger“, dachten sie und und betrachteten ihre gebunkerten Fahrausweise. Fein säuberlich in Einzelfahrt Richtung Norden, Einzelfahrt Richtung Süden, Tagesticket, Wochenticket aufgeteilt lagen diese in ihren mit Alkoholresten überzogenen Händen.
Ihr Schicksal war mir egal, vielmehr trieb mich der Gedanke an den anstehenden Samstag umher. Es war wichtig, Ruhe zu bewahren. Es war wichtig, Fakten zu sammeln. Es war also wichtig, die Schraudershaus zu kontaktieren. Seit unserer Weihnachtsfeier in der S-Bahn drückte ich mich im Treppenhaus an die Wand. Immer wenn ich sie hörte, versuchte ich irgendwo im Treppenhaus ein Versteck zu finden. Ihre Hoppenheim-Geschichte hatte sie mir Anfang des Jahres noch andrehen können, sonst aber hielt sie sich mit ihren Belästigungen zurück. Jetzt aber war sie mein wichtigster Zeuge.
Langsam spazierte ich die Brunnenstraße entlang. Hinter dem Weinbergspark lagen die letzten Mitte-Cafés. Dort saßen die letzten Apple-Nutzer. An der Bernauer standen die Mauertouristen im Schneematsch. Und während linker Hand ein zumindest okayer Gedenkrahmen geschaffen worden war, verschandelten Richtung Prenzlauer Berg neugebaute Stadthausruinen mit ihren Glasfassaden den Blick.
Top-Location, Top-Preise – unweit der Szenebezirke Mitte und Prenzlauer Berg. Vor der Haustür befindet sich der weltberühmte Mauerpark mit seinem noch weltberühmteren Mauerparkflohmarkt. Stehen Sie sich sonntags für überteuerte Plasteteller die Beine in den Bauch. Lassen Sie sich danach vom universumberühmten Mauerparkkaraoke belästigen. Seien Sie nicht nur Gast in ihrem Traum. Leben Sie Ihren Traum. 19€ / m² – kalt. Leben Sie Ihren Traum. Seien Sie Teil der Kreativgesellschaft!
Irgendwas lief in dieser Stadt verdammt schief. Es war nicht nur der BVG-Streik. Aber es war jetzt erst mal nur der BVG-Streik. Zumindest für mich. Und nur die Schraudershaus konnte mir jetzt noch helfen. Ersatzfahrpläne mussten her. Alternative Anreiserouten. Und die Gewissheit, dass die S-Bahn nicht einfach wieder krank sein würde. Die Fahrer der Bahn hatten es wahrlich nicht einfach. „Eingefahrene Bahn in Richtung Westkreuz. Zurückbleiben, bitte!“. Vor die Tür, in die Bahn. Warm. Kalt. Und immer noch weniger Bahnen als vor der großen S-Bahn-Krise.
Ein zutiefst deutsches Thema, dachte ich und dachte an den von deutschen Boulevardmedien ausgerufenen und von Dortmunder Ballspielvereinen dankbar angenommenen Generalstreik in Griechenland rund um den peinlichen Champions-League-Auftritt des Ballspielvereins am Athener Hafen. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände durften sich in der Bundeshauptstadt nicht wiederholen. Es lag nun ausschließlich an mir, die Borussia vor einer Niederlage zu bewahren. Und mein Schicksal musste ich in die Hände der Schraudershaus legen. Keine einfache Situation für einen Ermittler. Aber ich hatte schon ganz andere Situationen bewältigt!
Mir in dieser beinahe ausweglosen Lage derart Mut zusprechend, war ich längst am Humboldthain angelangt. An mir schnauften ein paar Jogger vorbei. Die meisten Läufer waren einfach nur traurig anzuschauen. Sie arbeiteten in ihren Agenturen und kauften sich durch ein wenig Bewegung in ihren atmungsaktiven Laufanzügen ein Stück Freiheit. „Diese 30 Minuten gehören mir“, hörte ich sie schnaufen, „diese 30 Minuten kann mir keiner nehmen. Da bin ich bei mir. Und ich mach was für die Gesundheit.“
So wie sie eben was mit Medien machten, machten sie auch irgendwie was für die Gesundheit. „Stell Dir vor, im Humboldthain sitzen sogar Türken und im Sommer kommen die Russen. Das ist ne ganz andere Welt da oben. Ein wenig strange. Aber so richtig Angst musst Du gar nicht haben. Die schauen nur anders. Können die auch nichts für“, beruhigten sie vor und nach ihren Runden ihre modebewußten Freundinnen. Da war sie wieder die Wut! Sie hatte mich nur kurze Zeit im Stich gelassen. Ich hätte sie auch einfach ignorieren können, meinen Blick auf den Prachtbau Gesundbrunnen-Center richten können, tat ich aber nicht! Ich verachtete die Jogger, ihre atmungsaktiven Anzüge, ihre Jobs und ihre Freundinnen. Alles an ihnen war mir zutiefst zuwider.
Aber auch der Humboldthain ging vorbei. Nach ein paar Minuten konnte ich von weiteren Joggern unbehelligt in die Koloniestraße einbiegen. Jetzt hatte ich nur noch ein Problem. Die Schraudershaus öffnete die Tür nicht. Kein Plan. Kein Ersatzplan. Dembowski. In der Küche blätterte ich ein wenig in der Autobiographie einer Heizung, dann in den lokalen Zeitungen. Beides war von ähnlich bescheidenem Unterhaltungswert.