Was war überhaupt mit Dembowski passiert? Fragte sich nicht nur der Ermittler, der alte Träume längst begraben hatte. 

Ich hatte Berg stehen lassen, mir nur den Umschlag geschnappt, ihm einen kleinen Ordner mit im Internet zusammengesuchten Geschichten in die Hand gedrückt und mich dann für ein paar Tage in der Wohnung verschanzt.
Draußen hielt sich der Winter, immer wieder verdunkelte sich der Himmel, immer wieder legte sich neuer Schnee über die älteren, grauen, eisigen Schneeschichten. Als der Frühling begann, lag ich immer noch bewegungslos in meinem Bett. Seit Tagen hatte ich mich nicht mehr mit der Borussia, nicht mehr mit meinen sonderbaren Ermittlungen oder mit anderen Geschichten den Ballsport betreffend beschäftigt.

Ich lag im Bett, blickte in den Himmel, sah den Schnee, hörte Songs:Ohia und dachte an wenig. Manchmal stand ich verwundert auf, ging ans Fenster, blickte auf die Straße, war erstaunt, wieviel Meter zwischen mir und dem Aufschlag lagen. Bald legte ich mich wieder hin, schloss die Augen und versuchte mich mit Schlaf durch den niemals endenden Winter zu retten. Es war hoffnungslos.
Immer wieder fragte ich mich, was überhaupt passiert war. Letztendlich war ich mir in den letzten Monaten fremd geworden. Hatte ich noch vor einem Jahr, bestimmt aber vor zwei Jahren ebenerdig auf eine kleine T-Kreuzung in der Dortmunder Nordstadt geblickt, hatte ich mich dort manchmal einfach so auf die Straße gestellt und den Tag an mir vorbeiziehen lassen, so war ich nun entweder zu erschöpft, um überhaupt auf die Straße zu gehen und wenn ich es dann doch tat, oder wenn ich mich nun mit dem Alltag beschäftigte, so waren es stets die großen Geschichten, die ich mitschreiben wollte.
Hatte ich mich früher um den Affenmaskenmann gekümmert, so ging es jetzt nicht unter mindestens dem Verfassungsschutz, dem ich in die Karten spielen wollte. Hatte ich mich früher mit Schlagersängern aus Scharnhorst, mit dem Ende der großen Casino Express beschäftigt, so hatte mein Praktikum bei Teenage Kicks PR mich abstumpfen und in den mittelmäßigsten Musikern, den langweiligsten Platten eine Sensation sehen lassen. Es war kein Wunder, überlegte ich im Bett liegend, dass sich Redermann und vor allen Dingen Amok nur noch selten meldeten. DerSamstag!, das Boulevardblatt, um alle Boulevardblätter zu beenden, war mein soziales Todesurteil.

Meine Wege führten mich nicht mehr ins Westfalenstadion, sie führten mich in eine Kneipe, die ich seit einiger Zeit für das Westfalenstadion hielt. Auf dem Weg dorthin sah ich die sich ewig gleichenden Bilder, in der Kneipe selbst verfolgte ich die Spiele halbherzig, stets jedoch, um meinen Ruf besorgt, mit zahlreichen Bieren in der Hand. Ich war, dachte ich auf dem Bett liegend, zu einer Karikatur verkommen.
Nur mit der größten Kraftanstrengung, dachte ich, mich jetzt im Spiegel betrachtend, würde ich mich aus diesem Loch ziehen können. Schon lange hatte ich mich nicht mehr ohne die großen, dunklen Augenränder gesehen, die mir beinahe bis zum Mund reichten, der seit Monaten schon von einem schweren Bart verdeckt war. Ohne es zu bemerken, ohne zu reflektieren, war ich in den letzten Monaten nicht nur zu meiner eigenen Karikatur verkommen, sondern ebenfalls ein veritabler Freak geworden.
Der Nebel, und das war hingegen extrem positiv, hatte sich gelegt. Redermann, Amok und der Rest der Dortmunder Bande waren in weiter Ferne, ich arbeitete jetzt auf eigene Rechnung. Von Piotr und den anderen Konstrukteuren würde ich so schnell nichts hören. Sie reisten in einer fernen Zeit, versuchten ihre Spuren zu verwischen.
Was mir blieb waren Dörte, mein Koi, und die Lamafarm. Doch nicht einmal dafür hatte ich in den letzten Wochen, eigentlich seitdem Dörte zurückgekehrt war, Zeit, besser: Kraft, gehabt. Eine durch und durch verkommene Situation, aus der ich mich im Bett liegend nicht befreien würde. Es war an der Zeit, die tägliche Routine zu durchbrechen. Es war an der Zeit, der neuen Realität ins Auge zu schauen, sie nicht mehr nur mit ein paar Bieren in der Hand zu begleiten, sie nicht mehr nur mit mir umspringen zu lassen, sondern ich musste meinen Alltag endlich wieder an ihr orientieren.
Ich würde ein paar kleinere Fälle brauchen, dachte ich, jetzt bereits am Computer sitzend, die Polizeimeldungen studierend. Auch hier würde es einen Affenmaskenmann geben, jede Stadt hatte einen Affenmaskenmann und jeder verdammte Affenmaskenmann fürchtete sich vor mir, weil ich ihn immer erwischen würde. Jeder blödsinnige, iglubauende Schlagersänger erstarrte vor Furcht, wenn ich nur in seiner Nähe war. Jeder Kiosk, jeder Späti war froh, wenn ich sein Kunde war und alleine durch meine Anwesenheit, ein Hauch von Sicherheit verbreitete. Aber nicht so. Nicht mit diesem Bart, nicht mit diesen Haaren, und vor allen Dingen nicht mit diesen bis an meine stets herabhängenden Mundspitzen reichenden Augenringe. Ich hatte mich von mir entfremdet, ich war nicht mehr der in schwarz gekleidete Ermittler mit dem akkuraten Scheitel. Der Dreck Berlins hatte mich verwahrlosen, zugleich abheben lassen.
Mir stand das Selbstmitleid, mir stand die Trunkenheit ins Gesicht geschrieben. Zugleich hielt ich mich für den größten Ermittler seit Heinz Harder, den es mit 38 an den Stadtrand, der damals ein Weltenrand war, getrieben hatte und der in einem tollkühnen Finale Nora Schäfer aus einer Schlangenfarm befreien konnte, dessen Existenz am Ende jedoch eine gescheiterte Existenz war, dachte ich.
Zwei Jahre, zwei Meisterschaften, ein Pokalsieg, ein fantastischer Lauf in der Champions League, ein Ortswechsel hatten mich komplett abdriften lassen. Nicht nur ich war mir fremd geworden, sondern die Borussia war mir ebenso fremd geworden. Es lag keineswegs nur an der Entfernung, aus der ich den Verein jetzt betrachtete. Es war schon lange kein Verein mehr, der da mit dem unsäglichen Claim Echte Liebe auf Stimmenfang ging, es war ein Unternehmen, dass sich innerhalb kürzester Zeit in die Ligaspitze katapultiert hatte und an der Schwelle zur europäischen Spitzenklasse stand.
Die alte Frage war nun, wieweit das also maßgeblich für das Fandasein war. Waren wir wirklich bereit, unser Leid aufzugeben, nur um uns mit allen medialen und auch finanziellen Begleiterscheinungen in der Spitze der Liga, in der Nähe der absoluten Weltklasse zu sonnen. War es wirklich das, was das Fandasein ausmachte? Der Erfolg, das Streben nach Erfolg, die Scharmützel mit Fans anderer Vereine, die sich in der internationalen Klasse wähnten? War es richtig, dass Derby als ein notwendiges Übel abzutun, war es richtig, nach mittelmäßigen 40 Minuten gegen Freiburg, die Mannschaft in Grund und Boden zu stampfen, nur um sie nach durchaus gelungenen weiteren 50 Minuten in den Himmel zu loben?
So wie ich mir in den letzen Monaten, beinahe Jahren selbst fremd geworden war, so hatte die Borussia sich von ihren Leuten entfremdet. Auch sie täte gut daran, dachte ich, sich erst einmal wieder einen Affenmaskenmann, einen Schlagersänger und eine zerstrittene Band zu suchen.

Wonach, fragte ich mich, strebt ein Verein eigentlich? Wonach richtet sich der Erfolg eines Vereins? Was ist die Aufgabe eines Vereins? Eines Fußballvereins? Ist es wirklich der größtmögliche, sportliche Erfolg, ist es wirklich die in der letzen Zeit so häufig zitierte Gier nach Titeln? Und was brachten die Titel mir, was brachten die Titel den Fans, die sich vor ein paar Jahren noch an einer Grätsche Tingas und einem Weitschuss Kringes ebenso erfreut hatte, wie sie sich im Mai des vergangenen Jahres an dem 5-2 Erfolg gegen die Bayern erfreut hatten. Was also war der Sinn dieses Spiels? War es die Ablenkung? War es das Streben nach Titeln, um sich, waren sie einmal gewonnen, in ihrem Glanz zu sonnen? Und was kam dann?
Sonnte man sich in dem Erfolg, sprangen sie von allen Seiten herbei, um einen mit Arroganzvorwürfen zu überziehen. Jetzt also, sagten sie dann neidvoll, war man aber wirklich abgehoben. Folgten auf die Erfolge ein paar Niederlagen, so gossen dies Neider nun Spott und Häme aus. Wozu eigentlich? Was trieb uns an? Wozu bauten wir uns Feindbilder auf? Wieso bewegte uns das Spiel derart? 
Wieso ließ uns das Spiel manchmal für weit länger als 90 Minuten zu anderen Menschen werden oder waren wir, tief drinnen, vielleicht sogar diese Menschen, die sich den Rest der Woche irgendwie noch gerade so zusammenreißen konnten? Und wo zum Teufel war der Affenmaskenmann, der mich von diesen beschissenen Gedanken ablenken konnte?