„Seit dem 1.Februar 2010 lebe ich nicht mehr, ich existiere nur noch“, was mussten das für Schmerzen sein, die einen zu solchen Worten greifen ließen, dachte ich, als ich vom Tode Amerells hörte. In den letzten Monaten war es still um den ehemaligen Schiesdrichter geworden, der sich aus welchem Grund auch immer inmitten einer der hässlichsten, dreckigsten und billigsten Schmierenkomödien der Fußball-Neuzeit wiedergefunden hatte.

Was, wenn er wirklich nichts gemacht hatte? Was, wenn er da abgeschossen wurde. Vom DFB, von den Medien, von den Fans.

Eigentlich hatte der Tag eine andere Wendung nehmen sollen. Bei Teenage Kicks PR bereitete ich ein paar Veröffentlichungen für den Februar vor. Schon einmal anhören, schon einmal das Wort streuen. Mittlerweile hatte ich mich dort eingefunden. Ein paar Floskeln, ein wenig Fachwissen aus dem All Music Guide, ein wenig Spotify und schon nahm man mir meine Leidenschaft ab. Die hatte ich ohnehin. Insofern war ich Piotr dankbar, dass er mir den Job besorgt hatte. In all der Zeit bei Teennage Kicks PR machte ich mir ein paar Notizen, über das seltsame Verhalten von Sölden und aber in erster Linie über die Verstrickungen der unterschiedlichen Plattenfirmen. Über das personelle Geflecht, über die persönlichen Eitelkeiten, die gegenseitigen Schuldzuweisungen.

Ebenfalls war ich erstaunt, wie schnell es in der Musikindustrie mit den Schuldzuweisungen ging. Es war ein einziges Hauen und Stechen. Jeder wollte ein wenig vom Kuchen abhaben, der in ganz Deutschland vielleicht noch dem Etat eines Bundesligisten entsprach, der aber für die kleineren Agenturen maximal von Arminia Bielefeld-Größe war. Ging irgendwas schief, oder hatte man etwas vergessen und es fiel tatsächlich auf, musste man die Schuld nur weiterreichen, seltsame Begründung finden, warum die Sache nicht laufen konnte und wenn trotz der Argumentationslage immer noch kein Kopfnicken, kein „das verstehe ich“ kam, gab es immer noch das Totschlagargument „Hast Du Dir die Platte überhaupt mal angehört?“. Schnell hatte ich mitbekommen, dass sich überhaupt niemand mehr irgendwelche Platten anhörte, und wenn mir auch nicht klar war, wer, wenn die Leute, die sie veröffentlichten, schon nicht mehr an die Musik glaubten oder sie hörten, sie dann kaufen sollte, so hatte ich begriffen, dass es bei Teenage Kicks PR auch darum ging, Platten ungehört die Jahresendlisten zu hieven. Durch gespielte Begeisterung. „Das ist unser Job“, hatte Sölden mir erklärt. Und es erschien mir logisch. Irgendwas musste ja der Job sein.

So hatte ich den Tag mit meinen Überlegungen zur Teenage Kicks PR verbracht. Sie erschienen mir immer noch wenig zielführend. Piotr musste sich was dabei gedacht haben. Ich würde es erfahren. Schon bald würde er sich mal wieder melden. Erstmal aber meldete sich Redermann, der mir berichtete, dass sie Amerell in seiner Wohnung gefunden hatten. Als ich die Berichte über sein Sterben las und noch einmal die Zitate wahrnahm, mich an die Affäre erinnerte und mir überlegte, wie die Heuchler, die jetzt wieder die linke Hand schützend über und die rechte Hand drohend in Richtung Stark legten und streckten, wurde mir übel. Auch jetzt würden sie die Geschichte aus dem Jahr 2010 noch einmal hochkochen. Wenn er wirklich nichts gemacht hatte? Was, wenn er da abgeschossen wurde? Vom DFB, von den Medien, von den Fans.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Selbstgeißelungen in den Zeitungen erscheinen würden, es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendwer Attacken gegen den DFB reiten würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis alle ihre Bestürzung bekunden würden. Dann würden sie weitermachen und in ihren nächsten Auflistungen „aber denkt denn niemand an Enke, Rafati und Amerell“ fragen. Der ewige Kreislauf der Empörung über die Empörung. Mich widerte das an.