Das Grotifanten-Desaster hatte mich mal wieder um Jahre zurückgeworfen. Dortmund gab mir den Rest, schon allein weil Dortmund Dortmund war und sich nie ändern würde. Betrat ich diese Stadt und bewegte mich nicht in Richung Westfalenstadion, sondern musste mich ernsthaft mit ihr auseinandersetzen, nahm sie mir innerhalb weniger Minuten die Luft und Lust zu leben. 
Dortmund war bieder, eng, hinterwäldlerisch, kleinbürgerlich, provinziell, spießbürgerlich, engherzig und kleinstädtisch. Zumindest für mich. Und das zählte. Niemand konnte mir mit dem Phoenix-See kommen, dessen Größe in etwa der Größe der Stadt entsprach. Ich ertrug es einfach nicht, und doch, quite to my surprise, überlebte ich die Tage zwischen dem Grotifanten-GAU und dem Napoli-Spiel, das ich mir auf Einladung eines Freundes von der Pressetribüne anschaute. 
Da saßen die Geier, aufgereiht. Jeder mit einem Laptop, und einem Kaffee, denn es war kalt. Schon eine Stunde vor dem Spiel feilten sie an ihren Abgesängen auf Borussia Dortmund, und als das Spiel und auch das darauffolgende Spiel dazu keinen Anlaß boten, warteten sie einfach bis zum Leverkusen-Kick. Der Schwanensong der Taktikexperten, der Allesblicker, der Psychologen, der Schmierfinken klang trotz der regionalen Verfärbung überall gleich. 
Ich saß am Teich, blätterte durch die Zeitung, wischt mit meiner Hand über das Tablet, dass Dörte sich nach langem Zögern gekauft hatte, und las Koi die Abgesänge vor. Es war kalt geworden. Die Lamafarm trotzte den ersten Winterstürmen, die Lamas hatten den ersten Welt-Lamatag ohne größere Aufregung überlebt. Hin und wieder kamen ein paar Gruppen vorbei. Dann führte Dörte sie durch den Oderbruch. Ich spazierte, ein Glühweinfass auf meinen Rücken geschnallt, hinterher. 
Dick verpackt saß ich am Teich, las Koi die Abgesänge vor. 
“Jonathan Wilson has previously put forward a convincing argument about the ‘three-year rule’, saying it “seems particularly to apply to sides who play a hard-pressing game,” and while Klopp has completed more than three years at Dortmund, the European Cup final marked the end of Dortmund’s third year as a genuine title challenger.”
Koi sah mich an. Hilflos und fragend. So wir nur Koi mich anschauen konnte. Nicht weil er die Sprache nicht verstand, sondern weil es ihm sichtlich unangenehm war, mit diesen Ärgerlichkeiten konfrontiert zu werden. „Aber Du hast damit angefangen“, hörte ich Dörte, die mich seit längerer Zeit beobachtet hatte, ohne dass ich es bemerken wollte, hinter mir sagen. 
In ihren Worten steckte viel Wahrheit. Doch das konnte ich mir nicht eingestehen. Nicht vor Dörte. Nicht vor Koi. Ich war auf die vergangenen Monate nicht gerade stolz. Diese Aufregung. Diese Nichtigkeiten. Diese Abkehr von mir. Aber es war wie immer. Dörte, Koi und die Lamafarm beruhigten mich. 
Fußball. Fußball. Fußball. Wenn sich alles nur um Fußball, Fußball, Fußball drehte, vergaß ich schon einmal, dass Dörte, Koi, Lamafarm viel besser klangen und viel wichtiger waren. Natürlich. Die Flucht in das Spiel war immer auch eine Flucht aus der tristen Realität der Welt 2013. Das war die Flucht auf die Lamafarm jedoch auch. 
Manchmal eilte ich von Aufregung zu Aufregung, immer auf der Suche nach dem neuesten Aufreger, dem neuesten Fall, nur um mich, hatte ich ihn gefunden, voller Ekel ab. Das stete Wühlen im Dreck der Gesellschaft, die ständige Suche nach dem neusten Skandal tat mir nicht gut. Ich bezweifelte, dass sie überhaupt jemandem jemals gut getan hatte. Und trotzdem waren alle immer auf der Suche. 
Andere waren damit beschäftigt, eifrig zu dementieren, dass sie dieser Skandal interessierte. Und so redeten und schrieben alle davon, was man tun könnte. Aber niemand tat etwas. Wir waren in der Lage, den Zerfall zu bemerken. Wir waren zu müde, den Zerfall zu stoppen. 
Koi sah mich an. Ich bewegte weiter meine Lippen. Ich dachte, was ich eben dachte. Dörte strich mir über die Schulter. Verschwand. Kehrte wenig später mit einem heißen Tee, einer Decke, einer Kerze wieder. Es wurde Nacht über der Lamafarm. Aber ich wollte mich nicht von Koi verabschieden. Irgendwann schwiegen wir uns an. Koi im Wasser, ich auf dem kleinen Holzsteg. 
Wir schmiedeten Pläne, nur um sie wieder zu verwerfen. 
Am Mittwoch aber hielt mich nichts mehr auf der Farm. „Ich muss los“, sagte ich zu Dörte. „Klar! Mach nur. Viel Glück.“ 
Vom Gesundbrunnen ging ich die Badstraße hinunter. Es war längst dunkel. Die Lichter hier waren immer noch neonfarbener als an allen anderen Stellen dieser Stadt. Sie beruhigten mich. Ein Marseille-Fan humpelte auf der anderen Straßenseite. Blieb vor dem Boateng-Gemälde stehen. Schüttelte seinen Kopf. Schleppte seinen Körper weiter in den Imbiss. Ich bog in die Koloniestraße. 
Im hinteren Teil, dort, wo sich zur linken Seite der kleine Park öffnet, dort wo ich dereinst gewohnt hatte, saßen sie bei dampfenden Tee vor der Bäckerei. Sie schwiegen. Nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte, sie nicht stören wollte, drehte ich um. Mit der U8 nach Kreuzberg. 
Spieltag. Ich war ruhig. Die Abgesänge waren längst geschrieben. Die Abgesänge waren längst voreilig veröffentlicht. Für mich war es nur ein weiteres Date mit der Geschichte. 
Im Laufe des Spiels wurden sie nervöser und ich noch ruhig. Wer ein Date mit der Geschichte hat, der muss warten. Geschichte wird nicht in der 17. Minute geschrieben, und auch nicht in der 70. Minute. Neapel ging in Führung. Der BVB drückte. Julian Schieber wurde eingewechselt. Einmal schrie ich „Schieber, Schieber!“. Sie schauten mich mitleidig an. „Schon lange nicht mehr hiergewesen, Ermittler!“ 
Noch ein paar Minuten jetzt. Schieber hatte immer noch nicht viel gerissen. Der kroatische Schiedsrichter keinen Elfmeter gegeben. Kopfball Schieber, Mkhitaryan setzt sich einmal am Flügel durch. Wieder Schieber. Jetzt am Fünfer. Ablage auf Kevin. Der rutscht aus. Trifft dem Ball im Fallen. Tor. Date mit der Geschichte. Ich hatte es gewusst. Das hielt mich nicht davon ab, komplett auszurasten. Für ein paar Stunden. Bis es wieder gut war. 
Als ich die Tür der Kneipe aufstieß und Richtung Kottbusser Tor schlenderte, wurde mir wieder bewußt, welche Kraft das Spiel hat. Und wie wenig all die Menschen hier davon wußten. Wie konnten sie nur ohne das leben?