Die Rekonstruktion eines Todesstreifen betrachtend, freute sich der Ermittler auf den Endspurt der Bundesliga.
In wenigen Tagen, wenn nicht sogar in weniger als 55 Stunden lief die Meisteruhr der Borussia ab. Mittlerweile hatte ich lange genug Zeit gehabt, mich mit dem Gedanken anzufreunden und der Gedanke war nicht schmerzvoll, er zog keine Schatten nach sich. Für zwei Jahre hatte der BVB die Liga verzaubert und war nun unter zahlreichen, meist wenig erfreulichen Begleiterscheinungen in der internationalen Klasse angekommen.
Tag für Tag trieben aufgeregte Medien die Dortmunder Spieler durchs Dorf und ebenso aufgeregte Fans kommentierten diese Neuigkeiten im Internet. Sie regten sich auf, sie verfluchten das Internet und den modernen Fußball, dessen Auswüchse in der Tat befremdlich wirkten. Manchmal kamen Gerüchte auf, die niemand genau einordnen konnte. Dann wurde es für einen Moment still, dann überlegten die Dortmunder Fans, wie sie das jetzt einordnen sollten.
Ich für meinen Teil hatte ich mich daran gewöhnt, und beschlossen, dass DerSamstag! in den nächsten Wochen und Tagen nur noch zu sportlichen Gesichtspunkten Stellung beziehen würde. Zwar war ich weiterhin an ein paar guten Geschichten dran, doch wollte ich abwarten, die Zeitung ein wenig aus der Schusslinie nehmen und mich ohnehin erst einmal um andere Dinge kümmern.
Zu sehr hatte ich mittlerweile an dem ewigen Winter Gefallen gefunden. Mal trieb ich mich dick vermummt auf Antifa-Partys rum und mal spazierte ich im Abendlicht durch die schnee- und eisüberzogenen Seitenstraßen des Soldiner Kiezes. Dann machte ich halt in mir bis dahin unbekannten Kneipen, fragte mich, wieso es mir bislang nicht gelungen war, meinen Blick von den Hauptstraßen und den üblichen Kneipen hin zu den unergründlichen Nebenstraßen streifen zu lassen. Es war stiller abseits des Berufsverkehrs, es gab mehr Stammpublikum in den Bars, das Bier war günstiger, die Musik älter.
Den entrückten Vortrag Tom Barthels hörte ich mir in einer Kneipe in Charlottenburg an. Ich erfreute mich an seinen Warnungen, registrierte erstaunt, wie sehr er sich noch in der 85. Minute vor den bestenfalls viertklassigen Kasachen fürchtete und notierte Löws Einlassungen zu den Neuer-Pfiffen mit einem breiten Grinsen. Die Bundesliga-Pause, die Gewissheit, den Meistertitel schon bald abgeben zu dürfen, der ewige Winter, die Abkehr vom Boulevard-Prinzip. Ich fühlte mich frei.
Und so vergingen die Tage bis zum Osterfest. Dörte verzweifelte auf der Lama-Farm ein wenig an dem tiefgefrorenen Boden und sie sagte mir, wie sehr sich mich vermisste und ich sagte ihr, dass die Saison bald beendet sei und dass der Sommer uns gehören würde. Und sie sagte mir, wie sehr sich darauf freue und ich erwiderte, dass es mir genauso gehe. Es ging mir verdammt gut und der Gedanke an einem Sommer auf der Lamafarm ließ mich die jetzige Kälte noch weniger beklagen. Sie war da, doch konnte sie die Wärme in mir nicht verdrängen. Vielmehr verstärkte sie diese noch.
Die Aussicht auf das Spiel gegen den VfB Stuttgart, schlussendlich, ließ mich verzücken. Endlich wieder Liga-Alltag, endlich wieder in die Kneipe, die ich, anders als in den vergangenen Wochen, mit der Gewissheit einer verspielten Meisterschaft betreten würde. Die verspielte Meisterschaft war in Wirklichkeit natürlich ein hoffentlich gewonnener Kampf um den zweiten Platz in der Liga. Würde es eine 3-Jahres-Tabelle aus den Platzierungen der letzten drei Spielzeiten geben, so würden wir diese immer noch mit großem Abstand anführen. Diesen Eindruck galt es jetzt in den nächsten Jahren zu festigen.
Die nächsten Jahre würden weiterhin gnadenlos sein, der Kelch des Turbokapitalismus würde weiterhin nicht an uns vorbeigehen. Wir mussten uns darauf einlassen. Wenn alles klappte, würden wir in den nächsten Jahren vom SC Freiburg der Champions League zum Borussia Dortmund der Champions League aufsteigen. Dann, so hoffte ich, würde uns zumindest das lästige Transfergerüchtegeschäft nicht mehr ganz so interessieren, da es die Borussia wäre, die die Gerüchte bestimmen und eben nicht nur kommentieren würde. Gelang uns dieser Aufstieg nicht, verbrannten wir an der Sonne der europäischen Spitzenklasse, so hatten wir zumindest für ein paar Jahre, mindestens für eine Spielzeit auch auf europäischer Ebene eine kleine Geschichte geschrieben. Bereits die Spiele gegen Malaga würden dazu die Richtung vorgeben.
Rund um den Verein, dachte ich, gab es momentan sehr viel Unfrieden. Proteste gegen die Ticketpreise, Proteste gegen die steigende Anzahl der Rechtsradikalen auf der Tribüne. Und nicht immer hatte der Verein sich mit seinen Äußerungen und seinem Handeln glücklich gezeigt. Auch er hatte scheinbar Probleme, sich an die Vielzahl der Veränderungen anzupassen.
Ich setzte meine Kopfhörer auf, fuhr zur Bernauer Straße und blickte in den ehemaligen Todesstreifen. Und während ich so dastand, träumte und auf die Schneereste in der Rekonstruktion eines Todestreifen blickte, hörte ich Belle & Sebastian und wusste mal wieder, dass alles irgendwie okay wird. Mehr hatte ich nie erwartet.