Die Finger beiseite schaffen, Komaroff verdrängen, Nobster zumindest für einen Tag Nobster sein lassen. Spieltag. Und über die Hauptstadt hatte sich Schnee gelegt. Draußen fühlte es sich an, wie der 19.12.2009. Der 100.Geburtstag. Der kälteste Tag der Welt. Der kälteste Tag mit den wärmsten Herzen.

Im Radio erzählten sie von den Ausschreitungen in Ägypten. Wendt war noch nicht zu Wort gekommen, gab es Hoffnung, oder aber war es nur eine Frage der Zeit, bis der Gewerkschaftssprecher sich Zeit für die wirklichen Zusammenhänge zwischen Racheaktionen und den sogenannten Fans in Deutschland herausarbeitete? Ich war voller Hoffnung. Es war kalt, ich war nicht mehr müde und meine Hoffnung zog ich aus der Erinnerung an den 19.12.2009.

Ein Rückblick:

Am 19.12.2009 war ich früh morgens raus aus der Erdgeschosswohnung. Die Wentraud hatte den Laden geschlossen. Überhaupt war noch niemand wirklich wach. Doch mich zog es zum Borsigplatz. Es war kalt, der Boden war leicht mit Schnee überzogen, auf dem Borsigplatz lagen die Spuren der vergangenen Nacht. Sie hatten sich dort gegen Mitternacht getroffen und mit Pyrotechnik und Gesängen eine eindrucksvollen Start in den Geburtstag hingelegt. Die Verteilerkästen rund um den Borsigplatz hatten die Grundschüler der Umgebung bereits in den Monaten zuvor mit Glückwünschen versehen. Niemand konnte erahnen, dass dieser Geburtstag nur der Startschuss sein sollte. Kaum 18 Monate später dann saßen die Leute in den Bäumen und feierten den Deutschen Meister. Davon aber war am 19.12.2009 noch nichts bekannt, niemand verschwendete nur einen Gedanken an eine mögliche Meisterschaft.

Die Wochen zuvor war ich selten aus der Wohnung gegangen, es war eine Zeit voller Zweifel. Es war eine Zeit, die ich heute zwar lange hinter mir gelassen habe, die mir jedoch immer noch nachhängt.

Die Erinnerung lässt sich nicht zerstören. Die Erinnerung an die Dunkelheit des Jahres 2009 wird mich ein Leben lang begleiten. Der Ermittlerjob lief nicht wirklich, noch viel mehr als heute kreisten meine Überlegungen um Dörte. Sie war weg, und die Wunde noch offen. Mit jedem gedachten Wort streute ich mir damals Salz in die klaffende Wunde, die immer mehr brannte und mich hin und wieder schmerzhaft aus meiner Umnachtung erwachen ließ. Ich wollte nur noch schlafen, die Welt war nicht mehr mein Zuhause. Die Welt war mein Feind. Aus der Erdgeschosswohnung hatte ich natürlich keine Fälle lösen können. Und in der Erdgeschosswohnung konnte ich keine anderen Gedanken denken. Schlafen, Dörte, Schmerz. Mein Körper, mein Geist – gelähmt!Um es kurz zu machen: Auf einer Skala von 1 bis “Entsetzlich” ging es mir “Entsetzlich”.

Doch am Geburstag raffte ich mich auf, ging morgens auf den Borsigplatz und hielt inne. Dachte an die Zeiten, in denen es dem Verein sicher nicht anders gegangen war. Sie lagen noch nicht lange zurück, doch sie hatten sich befreit. Auf dem Borsigplatz innehaltend nahm ich mir damals vor, dass ich kämpfen werde. Kleine Schritte, kleine Erfolge. Und wenn ich zwischenzeitlich immer weiter in den Sog der Vernichtung geriet, so konnte ich mich immer wieder am 19.12.2009 aufrichten. Es war ein guter Tag. An dem ich mir die Zeit bis zum Anstoß in der Stadt vertrieb. Einen Kaffee trank, eine Waffel aß, den Leuten auf dem Markt zuschaute. Zum ersten Mal seit langer Zeit vor der Tür. Das Spiel gegen Freiburg war hingegen fast komplett ausgelöscht. Natürlich: Die wunderbare Choreo. Der Barrios-Treffer nach Flanke ausgerechnet nach 19 Minuten und 09 Sekunden. Das Drehbuch! Perfekt. Danach bittere Kälte. Warten auf die Lasershow. Die Lasershow. Die Geburtstagsfeier ohne Bierstände.

Aber am 19.12.2009 nahm ich mir vor, wie der Ballspielverein zu kämpfen. Es war nicht mein schlechtestes Vorhaben. Und wenn es immer wieder Rückschläge gab, heute hatte ich immerhin keine Angst mehr vor der Welt da draußen, die Wunde war beinahe verheilt und der Nebel legte sich nur noch selten über mich. Borussia, Du bist Leidenschaft. Auch am 03.02.2012 in Nürnberg.