Dass das miese Gefühl mein Herz nicht erreichen würde, war spätestens nach der Weidenfeller-Parade nach gut 15 Minuten klar. Als der Mann aus Holzminden wenig später zu meiner großen Überraschung auf den Elfmeterpunkt zeigte und Kuba seine Schritte sorgsam bedenkend den Ball beinahe mittig im Nürnberger Tor versenkte, war das Spiel gelaufen. Gegen Mitte der zweiten Halbzeit war auch klar, dass wir nach zwei Spielen in der Rückrunde noch keine 10 Tore erzielt haben werden. Es war der letzte unerfreuliche Randaspekt an diesem letzten kalten Freitag im Januar 2013, der, wenn man ausschließlich auf das Ergebnis aus dem Westfalenstadion schaute, durchaus hätte schlechter enden können.
Wir steuern auf eine Katastrophe zu, hatte ich noch in der Bahn in Richtung Kreuzberg gedacht, und bemerken es doch erst, wenn alles hinter uns liegt. Wir laufen in das endgültige Verderben, hatte ich auf den alten Sitzen der U8 sitzend gedacht, und können uns nicht dagegen wehren. Wir sehen am Ende des Tunnels ein Licht und es ist nur das Rücklicht eines vor uns fahrenden Autos, welches in noch größerer Geschwindigkeit in Richtung Verderben, Katastrophe, Untergang rauscht. Obwohl wir beschleunigen, hatte ich kurz vor dem Moritzplatz gedacht, erreichen wir das Licht am Ende des Tunnels nicht. Irgendwann, wenn es bereits zu spät ist, fragen wir uns, ob es da wirkliche eine andere Seite gibt und schlagen mit voller Geschwindigkeit gegen die Mauer. Auf der Mauer steht immer: Zu spät.
Als ich am Kottbusser Tor aus der Bahn stieg und die Lichter des Kreuzberger Winterabends sah, war es jedoch und zu meinem größten Erstaunen das Gegenteil von zu spät gewesen. Ziellos und beinahe willkürlich hatte ich nicht die Abzweigung in die Seitenstraße genommen, sondern war geradewegs in Richtung Neukölln und Landwehrkanal gelaufen. Als ich über die Kottbusser Brücke geschritten war, die abendlichen Pfefferminzteetrinker in der Ankerklause zu meiner linken Seite hatte liegen lassen, und immer tiefer an Apotheken, Spielhallen und Trinkern vorbei nach Neukölln hineingestoßen war, hatte ich auf meiner rechten Seite die Böckhstraße bemerkt.
Am 07.12.1993 war hier die ehemals brutalste Band Deutschlands aufgetreten. Das Mutter-Konzert in Floris und Maxens WG hatte 50 Pfennig Eintritt gekostet. Natürlich erinnerte ich mich daran nicht, weil ich damals auf dem Konzert gewesen war, wie ich im Jahre 1993 überhaupt noch nicht in Berlin gewesen war. Aber doch hatte ich wenig später die Band Mutter für mich entdeckt. Auf ihrem Album „Hauptsache Musik“ hatte Max Müller, den ich Jahre später im Vorprogramm von Rocko Schamoni im Dortmunder FZW zum ersten Mal in meinem Leben sehen würde, die Böckhstraße 26 in einem der stillsten Lieder ihrer Karriere besungen. Seitdem hatte es mich begleitet. Seit nunmehr beinahe 20 Jahren, noch nie aber war ich auf die Idee gekommen, durch diese Straße und an diesem Haus vorbeizulaufen.
Am 25.01.2013, um 19.09 Uhr war es soweit. Für einen kurzen Moment war ich verwundert stehen geblieben. Wir denken wir steuern auf eine Katastrophe zu und sehen vor uns bereits diese Mauer, die unseren Aufprall nicht abfedern wird, und halten weiter drauf zu, hatte ich vor der Böckhstraße 26 stehend gedacht, und fragen uns, wie sich der Aufprall wohl anfühlen wird und was wir während wir auf die Mauer prallen wohl denken werden und sind in einer beunruhigenden Art und Weise voller schockierender Vorfreude auf den unendlichen Schmerz, den dieser Aufprall in uns auslösen wird, hatte ich im Schnee vor der Böckhstraße 26 stehend gedacht, und wenn wir uns mit unserem Schicksal, mit der bevorstehenden Katastrophe beinahe angefreundet haben, uns darüber freuen, dass in unserem Leben endlich einmal was passiert, dass es aus den eintönigen Schranken des Alltags geschmissen wird, erinnern wir uns auf einmal daran, was wirklich gut ist, was wirklich wichtig ist und steigen mit einmal, ohne es zu wollen, sondern aus einem inneren Impuls, ausgelöst durch einen zutiefst beiläufigen Moment, mit voller Kraft auf die Bremse, steuern dagegen und kommen vor einer ganz anderen Mauer zu stehen, hatte ich vor der Häuserfront der Böckhstraße 26 stehend gedacht und war mit einem Mal umgekehrt und war wenige Minuten später bereits, diesmal von einer anderen Seite kommend an der Kneipe, die mir in meiner Berliner Neuzeit ein Zuhause geworden war, angelangt.
Zum ersten Mal war mir an diesem Freitag ein Schriftzug an einer der Häuserwände in dem Straßenzug aufgefallen. In dicken roten Lettern stand dort: „Die Hölle ist überwindbar“ geschrieben. Vor ein paar Jahren hatten Wir Sind Helden dieses Hesse-Zitat in einem Schunkelschlager neu aufbereitet. Hesse aber hatte damals „es sind immer die „gesunden“ Menschen, welche plötzlich umfallen und an einem Luftzug sterben. Es sind die, welche nicht leiden gelernt haben, Leiden macht zäh, Leiden stählt“ geschrieben. Im Holofernes-Lied waren aus den „gesunden Menschen“ „dressierte Affen“ geworden und dort vor der Häuserwand neben der Kneipe stehend, fragte ich mich, was aus den „dressierten Affen“ wohl geworden war.
Diese Gedanken in mir tragend, hatte ich die Tür zur Kneipe aufgestoßen und auf den mich begleitenden Schock meiner Gedankenschwere erst einmal ein Bier geordert. Das Spiel hatte begonnen und war nach nur 23 Minuten bereits beendet. Ich machte mir keine Sorgen mehr. Ich machte mir keine Sorgen die Borussia betreffend und ich machte mir keine Sorgen meinen Auftrag betreffend. Ich hatte mich an einen Tisch gesetzt, auf die Leinwand geschaut, war in manchen Momenten in schwere Depressionen verfallen, hatte mich ins Westfalenstadion gewünscht, war dann aber nur bis zum Kühlschrank gekommen und stand so, vier Bier in meiner Hand, neben dem Tisch, saß dann wieder am Tisch und, da auf dem Platz nunmehr wenig passierte, hatte ich begonnen, meine Lewandowski betreffenden Insiderinformationen unter das Volk zu bringen. Nicht einmal hier in der Kneipe war DerSamstag! ein Begriff. Ich begann mir ernsthaft Sorgen zu machen. Wenige Sekunden vor dem 3-0 aber zog mich Nik zu ihm rüber, flüsterte mir „jetzt macht Lewandowski sein spätes Tor“ ins Ohr und lehnte sich genüsslich zurück. Lewandowski traf, nach toller Vorarbeit von Santana und Reus und ich fragte mich, was Nik wusste und warum ich das nicht wusste. Ich lud ihn zu einer Kneipentour ein, doch den Abend über konnte ich ihm nichts entlocken.