Als ich wieder im Kiez war, hatte sich nichts verändert. Osloer raus, diese Szene verdiente nie Applaus, aber immer meine vollste Aufmerksamkeit. Die Dortmunder Nordstadt war gegen die Unmenschlichkeit der U-Bahn-Station Osloer Straße eine einzige Erholung. Die Stadt schlug mir an der Osloer kommend mit all ihren Gebrechen mitten in die Fresse. Nicht einmal die sechs knüppelschwingenden Security-Menschen hielten sich zurück. Ich war direkt in eine Auseinandersetzung rivalisierender Jugendbanden geraten, die anscheinend beide hier ihren Rückzugsort hatten, sich nun ihrer Gegenwart mit Fäusten und Messern vergewisserten. Die Meisterschaft schien hier einige Lichtjahre entfernt.

An der Panke hingegen bot sich ein ganz anderes Szenario. Sie wateten durchs Wasser, zogen Einkaufswagen heraus, füllten Tüten mit Leergut und angelten Scherben. Die jährliche Panke-Säuberung zog die verbliebenen Anwohner des Soldiner Kiezes in ihren Bann. Sie bemühten sich um ein ordentliches Wohnumfeld, bewahrten sich den verschwindend geringen Teil Restillusion, dass aus diesem Kiez noch einmal ein ordentlicher Kiez werden würde. Erst neulich, als ich auf der Suche nach einer neuen Wohnung im Kiez war, hatte ich bei einem der großen Immobilienanbieter die Anzeigen gelesen. Dort warben die Haie des Gewerbes mit dem neuen „Szenekiez“, in direkter Innenstadtlage, nahe Prenzlauer Berg und Mitte. Sie verlangten ordentlich Provision und ich war mir nicht sicher, ob überhaupt jemand je auf diese Angebote eingehen würde. Es musste so sein, wenn sich der Kiez auch in 10 Jahren kaum verändert hatte und nie Teil der expandierenden Stadt sein würde.

Mir blieb nur der Rückzug in die Wohnung. Ich klickte mich durchs Netz, was wie immer sehr fad und öde war. Jetzt las man dort in sämtlichen Sprachen der Welt von der aufstrebenden Borussia, die Welt der Borussia, stand dort geschrieben, sei rosarot. Die Zukunft ohnehin. Doch der Verweis auf die indiskutable Champions-League-Saison, der sich versteckt in jedem Artikel fand, gab die Richtung für das zweite Halbjahr bereits vor. Die Schonzeit war längst vorbei und die, die es für nötig hielten, sich in diesen unwirklichen Momenten der Titelverteidigung mit der Zukunft zu beschäftigen, waren zwar noch in der Unterzahl, brachten sich aber bereits in Stellung. Mir graute es ein wenig vor dem Alltag, der ab August einkehren würde. Bis dahin aber blieb mir noch ein wenig Zeit, mich über andere Dinge zu ärgern.

So graute es mir dieser Tage vor dem Begriff „Shitstorm“, der mit dem Einzug der Piraten salonfähig geworden war. Ein Wort, das mich bereits in den Anfangstagen des Netzes genervt hatte, war jetzt auch in den etablierten Medien zu finden. Hin und wieder reichten diese ihren Lesern noch die Definition an die Hand. Es war nur eine Frage der Zeit bis die Sprache, wie ich sie kannte, vollständig verschwunden war. Von Shitstorm zu den Kommis war es nur ein kurzer Schritt, der sich mit der nächsten Generation auch in den Printmedien durchsetzen würde.

Nun war mir nicht ganz klar, ob ich kurz vor meinem 35.Geburtstag bereits dem konservativen Lager angehörte, vielleicht nervten mich meine Versuche, die Sprache zumindest für einen Moment noch zu bewahren, doch wann hatte ich das letzte Mal über mehrere Seiten etwas handschriftlich notiert? Die Zeit klaut ihre eigene Vergangenheit, und wenn ich mir, was in diesen Tagen häufiger geschah, noch einmal die Bilder der Meisterschaften in den 90ern ansah, so erschienen mir diese Aufnahmen wie aus einer fernen Zeit. Ich wurde alt. Und konnte es nicht ändern. Nur wollte ich mir meine Vergangenheit nicht rauben lassen. Für den Sommer nahm ich mir eine Reise in die Masuren vor. Eins, zwei Wochen bei Piotr und Tomasz, es würde mir guttun. Der Abstand, die Ruhe, die Glaswände im Aquarium, die pluckernden Beats.

Mein Plan bis dahin: Meisterschale organisieren, Pokal holen und die anstehenden warmen Tagen mit letzten Flugzeugbeobachtungen am Tegeler See verbringen. Fernab der Fußballheimat konnte ich Luft holen. Und in Melancholie versinken. Out go the lights!