Mit Frank Berg war dieser Tage wenig los. Versuchte ich ihn im Büro zu erreichen, war er nicht da. Schrieb ich ihm eine Mail, gab es keine Antwort. Versuchte ich es auf seinem Handy, war diese Nummer zurzeit nicht vergeben. Er war wie vom Erdboden verschwunden und währenddessen zerbrach die Fußballwelt mal wieder in ihre Einzelteile. Noch hatte ich belastbare Fakten an der Hand, noch hatte ich Kontakte in die sogenannte Unterwelt, in die Welt der Kriminalität, in die Welt, die dereinst hinter den verschlossenen Türen des Café Kings ihr ganz eigenes Leben entfaltete. Doch Frank Berg, das musste ich mir eingestehen, hatte mich für andere Sachen angeheuert.
Ich saß mal wieder in der Friedhofskneipe rum. Friedensverhandlungen. Meine Beschallung, hatten sie mir gesagt, sei wenig förderlich für das Geschäft. Sie zeigten mir Statistiken. Im Schnitt waren die Buchungen seit meiner Rückkehr in den Soldiner Kiez um 3.7% zurückgegangen. Sie machten es an mir, ich machte es an den Gesundheitsreformen der letzten vier Bundesregierungen fest. Immer wieder wiederholte ich meine Vermutung, dass die Euro-Krise jetzt auch das Leichenschmausgewerbe erreicht hatte. Es machte meine Verhandlungsposition nicht besser. Ich saß in der Kneipe, ärgerte mich über Frank Berg, über meine Nichtverwicklungen in den Wettskandal und versuchte Gespräche über die richtige Beschallung der Wollankstraße zu führen. Wo war ich nur gelandet? Welchen Film fuhr ich nur?
Letztendlich hatten sie mich überzeugt: An einem Abend in jeder Woche würden sie mich freihalten, ich versprach im Gegenzug auf die Beschallung der Trauergesellschaften zu verzichten. Nichts wie raus aus dem Ort. Ich hielt es hier nicht aus, hatte es dort nie ausgehalten, würde es dort nicht aushalten. Der Ort des Umtrunks nach den endgültigen Abschieden. Freude wurde anders geschrieben.
Noch einmal versuchte ich Frank Berg zu erreichen, wieder war er auf allen Kanälen nicht erreichbar. Auf dem Sofa sitzend. Ich legte die Stones auf, surfte im Netz und war nur noch gelangweilt. Meine Trefferquote bei DerSamstag! war in den letzten Wochen ebenfalls gen Null gegangen, hatte ich mich beim Nuri-Transfer noch mit obskuren Twitter-Postings in die nächste Runde retten können, wunderte es mich doch sehr, wie sehr ich mich bei Lewandowksi zeitlich vertan hatte. Laut meiner Quellen, auf die ich mich bislang immer hatte verlassen können, war es langsam mal an der Zeit, aber bislang blieb es still. Vielleicht ja in der Länderspielwoche, da passiert immer was, dachte ich Sister Morphine hörend. Das Leben war brutal und ich war Teil davon.
Das Leben dieser Tage, das Leben außerhalb der wenigen Fußballminuten, war ein großes Ärgernis. Dörte hatte sich vor einigen Tagen für ein siebenwöchiges Lama-Seminar nach Südamerika verabschiedet. Auch wenn es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um ein Alpaca-Seminar handeln würde, hatte ich ihren vorläufigen Abschied akzeptiert. Sie hatte mir im Gegenzug versprochen, den Konstrukteuren in Iquitos auf die Schliche zu kommen. Dass es jedoch so kommen würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Ablenkungsmanöver, mehr als ein billiges Ablenkungsmanöver war es nicht.
Irgendwann hielt ich es in der Wohnung nicht mehr aus, ich musste raus aufs Land. Irgendwohin. Luft holen, Wiesen anstatt Häuser sehen, Vögel anstatt Trinker beobachten. An der Wollankstraße stehend sprang ich in die erstbeste Bahn stadtauswärts. Sie trug mich bis nach Waidmannslust. Über den Zabel-Krüger-Damm gelangte ich nach Lübars. Ich blickte auf die Dorfkirche, bog kurz hinter der Kirche nach rechts ab und verschwand am Ende der Bebauung auf den Feldweg, der mich geradewegs in den Tegeler Fließ führte. Mittlerweile hatte die Dämmerung eingesetzt, die unteren, die grauen Wolkenmassen erreichten doppelte Geschwindigkeit und machten hin und wieder den Blick frei für das rote Dämmerlicht der oberen Wolkenschicht.
Als ich am Köppchensee eintraf, war Dunkelheit über die Stadt gekommen. Den unten liegenden See konnte ich am Uferhang stehend nur noch in seinen Umrissen ausmachen. Die Lichter der Stadt ließen sich von hier nur schemenhaft erkennen. Es war still. Und langsam, ganz langsam gelang es mir wieder, ein paar klare Gedanken zu fassen.
Wir verbringen unsere Tage in der Stadt, dachte ich am Uferhang stehend, und lassen uns von unserer eigenen Bedeutsamkeit treiben. Unsere Handlungen, denken wir, dachte ich, sind für uns immer die bedeutendsten Handlungen. Ohne uns, denken wir, dachte ich am Ufer stehend und mich langsam auf die kleine Hütte zubewegend, wäre der Lauf der Dinge ein anderer. Wir denken wir haben die Möglichkeit, den Weltenlauf durch eine Handlung, durch einen Kommentar, durch eine zufällige Begegnung zu beeinflussen, dachte ich jetzt auf der Bank sitzend und doch, dachte ich, sind wir nicht einmal kleine Getriebe im Uhrwerk der Welt. Wir handeln, wir agieren, wir kommunizieren und doch, dachte ich, mag es für uns vielleicht bedeutsam erscheinen, und doch, dachte ich, ändern wir nichts am Lauf der Geschichte.
In der Ferne setzten Gitarren ein. Eine Stimme schallte durch die Dunkelheit über dem Tegeler Fließ. Erst undefiniert. Dann setzte sie ein: „Gold teeth and a curse for this town were all in my mouth.” Langsam bewegte ich mich in Richtung Musik, die aus Richtung der alten Eisenbahnschienen zu kommen schien. Das Telefon klingelte: „Die Schweine! Die Schweine! Die haben uns wieder geschlagen! Lewandowski ….“ „Reiser, beruhig Dich!“ „Sky Italia! Wer soll uns noch glauben? Lewandowski zu den Bayern!“ „Beruhig Dich, Reiser. Was passiert, wird passieren. Wir sind nicht von Bedeutung. Ich mag die Shins.“ Ich legte auf, setzte mich an den Rand der Eisenbahnlinie und sah James Mercer zu.