So eine Saison ist lang, dachte ich, während ich mich endlich wieder in Richtung Kreuzberg auf den Weg machte. Mir war nach dieser langen Sommerpause überhaupt nicht bewusst gewesen, wie sehr ich diese glücklichen Anspannung an Spieltagen vermisste hatte. Das Aufwachen, die erste Musik des Tages, die Kronen-Reste vom Vortag, der Blick auf die Wollankstraße – alles schmeckte mir so viel besser, dachte ich nur an den bevorstehenden Liga-Auftakt.
Vorbei war die Zeit der Transferbomben, der Reisen in fremde Länder, die nur dem Zwecke dienten, mich selbst und somit den Rest der Welt zu unterhalten. Vorbei war auch die Zeit auf der Lamafarm, die mir in all den qualvollen Monaten des Wartens jedoch ein wichtiger Ausgleich geworden war.
Aus meiner Sicht war die Sommerpause beendet und so wollte ich mich verhalten. In der U-Bahn die Touristen, am Kottbusser Tor die Touristen, auf der Reichenberger die Ökos. Nichts hatte sich verändert. Wieso auch. Nicht einmal die Aufstellung der Borussia hatte sich groß verändert. Anstelle des unsäglichen Posterboys stand jetzt eben Aubameyang in der Startelf, und dort, wo früher Lewandowski spielte, spielte immer noch Lewandowski. Dass dies schlußendlich auch auf die vermittelnden Tätigkeiten der besten Boulevardzeitung aller Zeiten zurückzuführen war, verschwieg ich, als ich mir die ersten zwei Kronen runterstürzte und Lewandowski den ersten Ball nicht erreichte.
Wir spielten nicht wirklich überragend, Gündogan kam schwer ins Spiel, das Mittelfeld war einigermaßen fest in Augsburger Hand und doch drängten wir nicht, wie ich es vehement forderte, mit langen Bällen in die Spitze, sondern spielten einfach weiter geduldig auf das erste Tor. Und natürlich war es ausgerechnet Gündogan, der Schmelzer freispielte, so dass dieser Aubameyang in der Mitte bedienen konnte.
Ich trank noch ein Kronen, wurde aber während der letzten Minuten der ersten Halbzeit immer nervöser. Augsburg hatte längst die Kontrolle über das Spiel zurückgewonnen. Nur aus mir vollkommen schleierhaften Gründen waren wir bis dahin ohne Verwarnung geblieben und aus mir auch vom Kronen verschleierten Gründen stolperte Hummels an jedem Ball vorbei. Er hatte sich konzentrieren wollen, doch gegen Augsburg sah man davon noch wenig.
Egal. Zwei weitere Tore von Aubameyang, ein Elfmeter von Lewandowski und der standesgemäße 4:0 Erfolg war eingetütet. Viel Luft nach oben, dachte ich in der Kneipe sitzend, die sich langsamer leerte als mein achtes Kronen des Nachmittags.
Als ich mich irgendwann auf den Weg zurück in die U-Bahn-Schächte und somit zurück in den Soldiner machte, war ich wohlig betrunken. Noch einmal wollte ich es jetzt im Oldie Eck so richtig krachen lassen, für jedes Tor ein Herrengedeck, den Sonntag danach mit entspannten Kopfschmerzen angehen.
Im Oldie Eck hatte sich die zwielichtige Mischpoke der Weddinger Nacht versammelt. Sie sangen Helene Fischer-Hits. Eine Gruppe grauer Kettenraucher bat mich an ihren Tisch. Wie sollte ich ablehnen? Sie lockten mit einem überquellenden Stammtischaschenbecher und einer Herrengedeckdruckbetankung.
Sie redeten nicht viel und als sie doch einmal redeten, war es mir kaum möglich, sie zu verstehen. Ich war mittlerweile drüber. Rutschte immer tiefer auf die Bank. Einer legte mir seinen Arm um die Schulter und flüsterte „das wird schon.“. Das, was ich von seinem Atem noch wahrnahm, roch nach jahrelanger innerer Verwesung. Mein Kopf sackte auf die Tischplatte. Von der anderen Seite wurde ich wieder aufgerichtet. Sie machten sich jetzt an meinen Taschen zu schaffen.
Ich wollte mich wehren, doch meine Arme waren zu schwach, sich gegen die Kraftanstrengungen der grauen Herren zu wehren. Ich spürte einen Schlag, der auf einer Rippe zerbrach. Wieder sackte ich zusammen, wieder wurde mein Kopf hochgerissen, wieder ein Schlag und wieder der Griff in die Tasche. Mein Kopf schleuderte auf die Tischplatte, ein weiterer Schlag landete auf meiner Brust. Helene Fischer sang und im Fernsehen über der Theke dämmerte Franz Beckenbauer mit mir.
Mein Zustand ließ sich ganz gut mit dem Gegenteil von entspannten Kopfschmerzen beschreiben und ich hatte keine Ahnung, warum es mich erwischte hatte.