„Das Telefon steht nicht mehr still!“ Dörte wieder. Eigentlich waren das gute Nachrichten. Ein paar mehr Kunden wären unserem Vorhaben, die Lama-Farm endlich über den Status eines „Hirngespinsts“ hinauszubefördern, durchaus zuträglich gewesen. Natürlich standen auf der Farm genug Lamas rum. Natürlich konnte man mit diesen wunderbaren Tieren die ausgearbeiteten Strecken abschreiten und sich in der Schönheit des Oderbruchs verlieren. Aber dafür bedurfte es nun einmal Kunden. Die hatten wir bislang nicht, aber für den Bruchteil einer Sekunden hegte ich große Hoffnung. Die Anzeige im Oderbruch-Kurier musste Wunder gewirkt haben.
„Coole Nummer. Ich bin hier durch. Dann besser kein Bier. Bin sofort zurück, Dörte“, antwortete ich. Doch ihre Stimme blieb kalt. „Du solltest sofort zurückkommen. Kamerateams sind auch da.“ Sie legte auf. Es war Donnerstag, langsam ging es auf den Abend zu und wenn ich es noch zurück auf die Farm schaffen wollte, musste ich mich beeilen. Irgendwas war passiert und Dörtes Stimme sagte mir, dass das nicht wirklich mit der Lama-Farm zusammenhing. Und da ein einsamer Karpfen allein wahrscheinlich auch nicht für so viel Wirbel sorgen konnte, mussten sie unsere Farm gefunden haben. Ging es um Reiser (das hoffte ich nicht) oder um die neuen DerSamstag!-Fakten (das konnte mich mir nicht vorstellen)?
Am Späti organisierte ich mir noch ein paar Biere und sprang am Gesundbrunnen in den 18.39er in Richtung Nordosten. Ein paar Fahrradfahrer, ein paar Pendler, die es in Berlin nicht aushielten und sich außerhalb der Stadt von ihren Arbeitstagen erholen wollten, ein paar Schulkinder auf ihrem Weg zur großen Party in Eberswalde. Ob sie diese erreichen würden, erschien mir beim Anblick der zahlreichen Vodka-Flaschen mehr als zweifelhaft.
Ich öffnete mir ein Bier, blickte auf das vorbeiziehende Karow, legte Savoy Grand auf und ergab mich der süßen Melancholie Langleys.
Just got off the telephone / the world has been all over you / no, don’t think I can cope with what they have left of you / in a moment I will let it slip / across my tongue and out into the moving air
Ich sah die Reihenendhäuser, die langsam zu Birken wurde, in große grüne Wiesen übergingen und kurz hinter Biesenthal zu einem einzigen Wald, gebrochen von alten russischen Kasernen wurden. Langley hauchte mir eine Ahnung davon ein, wie es sein könnte, wenn man nicht immer nach Perfektion streben, sondern vielmehr sich von den Tagen treiben lassen würde. Durch den Zug rollten leere Vodkaflaschen, und Teenager küssten sich und ich trank kurz vor Eberswalde den letzten Schluck Bier. Die Sonne stand tief und leuchtete nach einem weiteren Regentag noch etwas intensiver.
Kurz vor der Farm sah ich die Übertragungswagen. Sie hatten wirklich dick aufgefahren. Aus Anrufen mussten im Laufe des Abends Live-Übertragungen geworden sein. Ich sah sie alle vor dem Tor der Farm stehen, ihre Mikrofone in der Hand, bald mit den Armen in Richtung Haus, bald in Richtung Stallungen schwenkend. Ich machte kehrt, ging über den alten Seitenarm der Oder, spazierte über die Holzbrücke zurück, direkt hinter die Stallungen und verschwand durch Dörtes Brennnesselfelder im Haus.
„Was hast Du schon wieder gemacht, Dietfried? Dass Du diese Spiele nicht lassen kannst. Die sind ernsthaft sauer.“ „Welche Spiele?“ „Du mit Deinem Fußball. Du mit Deiner Phantasie. Du mit DerSamstag!“ „Hör mal zu, Dörte! Ich steck da ne Menge Arbeit rein, nur um Dir diesen Traum hier zu ermöglichen. Nur damit Du weiter von Deinen Lamas träumen kannst. Wenn sich die Leute an meinen Quellen stören, ist das nicht mein Problem. Überhaupt nicht mein Problem. Hier…“ ich knallte Dörte die aktuellen Geschäftszahlen auf den Tisch. Sie wiesen ein dickes, schwarzes Plus aus. „DerSamstag!, meine liebe Dörte, ermöglicht uns diese Farm erst. Es ist ein mieses, ein dreckiges, ein durch und durch verlogenes Geschäft. Aber jemand muss den Job machen. Erinnerst Du Dich an Reiser?“
Dörte starrte mich an. Ich konnte ihr ansehen, dass sie wusste, was niemand wissen sollte und was bislang niemand wusste. Außer Dörte! Außer Atem fügte ich „ich werde es nicht erwähnen“ hinzu, zog mir meinen besten Anzug an und trat, nach einem Whiskey, vor die Tür, schritt seelenruhig in Richtung Tor. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Koi, der mir durch einen Sprung über die Wasserkante „Koi Koi Koi“ wünschte. Es war wie immer, und doch wußte ich nicht, was mich erwarten würde. Wie konnte man das jemals wissen, wie konnte man sich sicher sein? Ich wusste es nicht. Hatte es noch nie gewusst, aber solange die Reiser-Geschichte nicht auffliegt, dachte ich jetzt schon die hektischen Reporter vor meinen Augen, kann mir alles egal sein.
Das Stimmengewirr bereitete mir Kopfschmerzen, die Kameras klickten, mir wurde schwarz vor Augen. Ich holte tief Luft, dachte an Koi und begann:
„Meine Damen und Herren. Vielen Dank für Ihr Interesse.“ Die Fragen verschwommen. „Was ist dran an Özil?“, schrie jemand und ein besonders aufgeweckter Typ in Sneakers brüllte „Sie machen unsere Geschäft kaputt.“
Ich holte noch einmal aus. „Meine Damen und Herren. Vielen Dank für Ihr Interesse an DerSamstag! Die Boulevardzeitung, um alle Boulevardzeitung zu beenden, informiert Sie natürlich nicht über die Hintergründe des Transfer-Scoops. „ „Das will auch niemand wissen!“ Aus den Mikrofonen wurden Mistgabeln und aus den Kameras wurden Fackeln, die die Farm ausleuchteten. „Holt ihn Euch!“, schrie der vorlaute Sneakerstyp und rannte auf mich zu. Er kam nicht weit. Ich musste ihn übersehen haben. Doch da war er, klarer und eindeutiger als ich ihn jemals gesehen hatte. Piotr! Und direkt neben ihm Winowski, ein vor Blut triefendes Messer in seiner Hand, der Sneakerstyp auf der Erde. Ich drehte mich um und rannte so schnell ich konnte.
Als ich aufwachte, war mein Bettlaken durchnässt. Neben mir standen ein paar leere Flaschen Kronen, das Telefon klingelte. „Dembo, ich mach mir Sorgen. Du wolltest Dich doch noch aus Berlin melden. Ich wollte mit Dir noch einmal die Schiffshebewerk-Tour durchgehen.“ Wie sehr ich Dörte liebte. “Wir müssen Koi das mit dem Nautykwariat sagen.” Das würde ich nicht tun. Mein Kopf explodierte.