Als ich aufwachte, hatte sich eine sanfte Schneeschicht über die Prinzenallee gelegt. Die Räumfahrzeuge waren im Einsatz, der M27er fuhr in Kolonne in Richtung Pankow. Der Besuch des israelischen Premier Netanjahu wirkte sich bis hier oben aus. Im Radio erzählten sie von den zahlreichen Straßensperren, die die Berliner dadurch zu erleiden hatten. Leid aber, dachte ich, das man verschmerzen konnte. Die Nachrichten verhießen nichts Gutes. Damaskus lag momentan wieder gleichauf mit dem Tahir-Platz, in einer Welt, die seit Jahrhunderten an ihren Konflikten zerbrach, war der nächste Unruheherd immer auch ein vormaliger Unruheherd.
So wie sich, dachte ich am Fenster auf den winterlichen Wedding blickend, das alles entwickelt, ist es doch egal, ob ich vor die Tür gehe oder nicht. Trotz der jahrelangen Konflikte, dem andauernden arabischen Frühling, den Auseinandersetzungen in Mali, den drohenden Weltuntergängen aber fühlte ich mich frei. Ich werde mich daran gewöhnen, dachte ich und meinte die Hast von Krise zu Krise, von Konflikt zu Konflikt. Die aufgeregte Berichterstattung über das Leben und Sterben in fremden Ländern, die nur ein Bruchteil der Menschen dieser Welt jemals besuchen werden und wenn sie es taten, war es doch nur für einen kurzen Moment in einer geschützten Ferienanlage. Das natürlich gerne in Ägypten. Sie gaben sich dann ganz jovial, hatten ihren Barkeeper, den sie nach dem Urlaub beim Namen nennen konnten und der für sie der Schlüssel zur Seele des Gastgeberlandes war.
Trafen sie aber in ihrem eigenen Bezirk auf diesen, ihnen wohlbekannten Barkeeper wollten sie sich nicht verständigen können. So ist das, dachte ich am Fenster stehen und überlegte wieso meine Überlegungen beim Anblick der winterlichen Wollankstraße überhaupt in diese, mir unerklärliche Richtung abgedriftet waren. Mit einem Kaffee in der Hand nahm ich die wenigen Stufen hinauf auf das Flachdach des Hauses. Als ich oben auf dem Dach stand, jetzt meinen Blick in Richtung Westen und somit auf die Walter-Nicklitz-Promenande an der Panke richtete, dahinter die Kleingärten der Kolonie und danach die weite Industriebrache des südöstlichen Reinickendorfs sah, über mir die Flugzeuge in Richtung Tegel hinabgleiteten, legte ich mir die Drifters mit Up On The Roof aufs Ohr.
When this old world starts getting me down, and peopel are just too much for me to face, I climb way up to the top of the stairs. And all my cares just drift right into space. On the roof, it’s peaceful as can be. And there the world below can’t bother me.
Das war nicht nur Hauptsache Musik, wie der Türke auf dem Flohmarkt dereinst Max Müller erklären wollte. In diesem Moment des unbegründeten Weltschmerzes verschaffte es mir einen anderen, wohligeren Anblick auf die sich unter mir dahinschiebenden, bald dahinscheidenden Menschen in Autos. Sie würden ohnehin nicht hier raus kommen. Niemand kam hier raus. Das Telefon klingelte. Ich blickte aufs Display, der kalte Dezemberwind brachte meine Hände zum Zittern, unten knallten zwei Autos ineinander. Reiser!
„Dembowski, altes Haus! Was treibst Du so?“ „Auf dem Dach stehen“ „Sachen gibt es. Auf dem Dach stehen. DerSamstag! ist auch nicht mehr Deine Sache, oder?“ „Schon. Aber was interessiert Dich das?“ „Wir gehen ganz exklusiv mit dem Schmelzer-Hammer raus!“ „Wechselt der jetzt doch?“ „Natürlich nicht. Wir haben ganz heiße Infos. Er verlängert den Vertrag. Das haben wir exklusiv“ Natürlich dehnte er das exklusiv ins Unendliche. Ihm war nicht mehr zu helfen. „Wow! Das sind Nachrichten. Wahnsinn. Wie habt ihr das erfahren?“ Er verhedderte sich dann in Erklärungen, die noch absurder klangen, als es die Vorstellung, dass er hier eine exklusive Geschichte an der Angel hatte, ohnehin schon war. Immer wieder betonte er „die monatelange Recherche“, die sie „mit größtem Aufwand“ betrieben hätten. Ich gratulierte ihm, verabschiedete mich mit den Worten: „Erinner Dich, erinner Dich, der 25.November!“
Noch einmal blickte ich mich um. Den Tag über telefonierte ich in Sachen Teenage Kicks PR, machte ein paar Geschichten für meine Künstler klar und als es Abend wurde, machte ich mich auf den Weg zum Pankower Weihnachtsmarkt. 62 Meter ragte der Gladiator in die Höhe, der Autoscooter stand leer, die zwei Glühweinständen waren nicht besucht. Ich war ruhig. Über mir die Flugzeuge, neben mir die Bahntrasse und vor mir die unbeschwerte Zukunft. Mit der Gewissheit: Irgendwo gab es immer ein Dach, um meine Perspektive zu relativieren.