Er zündete sich eine Kippe an. Wolken. Leichte Wolken, die sich wie kleinere Flecken über den Morgen legten. Das sanfte Rot der aufgehenden Sonne über den Kolonien Bornholm I + II. Ein Airbus A330, der mal vor den Wolken lag, und dann nahezu unsichtbar wurde. Ein paar Blätter wehten aus dem Westen die Straße hinab.
„Chicago El!“, dachte er. Noch ein Zug. Er schnippte die Kippe auf die Straße. Die Blätter blieben liegen. Nicht wegen der Chesterfield. Ein Stück weiter die Straße runter wurde ein Transporter beladen. 

Sie wollten früh los. Den Abfall der Dekadenz von den Straßen aufsammeln. Er hatte Angst vor ihnen. Vor ihrer Gier. Er mochte ihren Geruch nicht. Er mochte ihre Lautstärke nicht. „Sie werden weiterziehen. Chicago El!“. Da war die Maschine längst auf dem Flughafen Tegel gelandet.
„Machen sie bald auch dicht. Was passiert dann? Es kommen immer mehr Menschen!“
Ein paar Wildgänse auf ihrem Weg in den Süden. „Der Winter kommt früh!“
„I’d rather be a sparrow than a sail. Yes I would. If I could.”
Geschlossene Augen. Die Arme hinterm Körper an die Mauer gepresst.
Die Hände voller Diamanten. Doch  es war nur der Dreck der Straße, den er in den Händen hielt. Für einen Moment sah er sich, gespiegelt in den abgedunkelten Scheiben des vorbeifahrenden Transporters. Das Rot der Sonne in seinem Rücken. Die Hände wieder in den Taschen seines Bademantels. Ein Bild in der rechten Tasche. HSV-Aufnäher auf der Brust. Rot. Dunkler als der Himmel. Blut. Die Farbe. Unten knielang. Oben mit Kapuze.
H-H-H-S-V!
„Gibt es in Berlin überhaupt Hertha-Fans?“ Er hatte noch nie einen getroffen. Die Stadt wirkte natürlicher von außen. Zerlegt in die Einzelteile. Zerlegt in Stadteile, Kieze, Straßenzüge, Häuser wurde sie ihm immer fremder.
Drüben im Prenzlauer Berg zogen sie die Sanierung durch. Norweger. Mieterhöhung, Entmietung, Eigentumswohnung. Das ganze Programm. Sie hatten ihn vergessen. Das Hotel schlug ihm 3.000 / Monat vor. Die Norweger ließen sich auf 2.000 ein.  Das war vor 2 Monaten. Als der Sommer begonnen hatte. Deutschland? Weltmeister!
Jetzt hatte er nur noch ein Problem. Das lauerte hinter ihm. Und wollte nicht verschwinden. Nicht der Rabe. Nicht er. Emily Jane White. The Ravens.
“The ravens they fly low, death a ubiquitous member.”
Allgegenwärtig war nur sein Geschrei. Er war irgendwann gegen Mitternacht gekommen. Es waren nur noch ein paar Leute da. Er hatte sich auf sein Bett gefreut. Aber solange er da war, blieb der Weg versperrt.
Er hatte das Geld der Norweger genommen, wohnte jetzt im Soldiner Eck. Hinten. Neben den Toiletten. Sonst war das okay. Nur noch Freitags, Samstags offen. Nicht mehr die Pegeltrinker. „Geht ins Präbel Eck“, hatte er ihnen gesagt. „Ich brauche Euch nicht mehr!“
Jetzt war er müde.
Die Woche über ging er spazieren. Manchmal schwamm er im Tegeler See. Hin und wieder verbrachte er seine Tage in der Schorfheide. Gesundbrunnen rein. Chorin raus. Der Wald als Welt. Die Wiesen. Die Ruhe. Ein junger Marderhund als sein stiller Begleiter.  Die Erschöpfung.
„He realised hope died out in in the countryside.  Where you find what you need is the thing that you left behind”
Zu viel. Zu viele Jahre. Ein guter Spaziergang. Verdorben. Als er das letzte Mal frei atmete, sah er die Monitore eines Herzüberwachungsgeräts. Flache Linie. Das Ausbleiben jeder Regung. Sie war verschwunden. Und er hatte es nicht überlebt. Dann in schneller Folge.  Lortzingstraße. Flachbau.  Eigene Garagenzufahrt. Vögel an den Fenstern. Kopfsteinpflaster.  Das Wasser.  Er musste raus. Berlin. Noch einmal vergessen. Aber was vergessen? Er konnte sich nicht erinnern. War zu müde.
Prenzlauer Berg. Die Kneipe im Soldiner Kiez. Stammpublikum, Pegeltrinker. No-Go-Area, hatten sie ihm gesagt. Das hatte er gesucht. Wenn er den Alkohol um sich hatte, muss er ihn nicht in sich tragen.
“But we weren’t in it to win. Our love it grew and died, begin again”
Auf dem Bild war sie zu sehen.  Kurze, blonde Haare. Ein Lächeln. Ein Bodycount T-Shirt.
Das Bild war alt. Sandy war auch drauf.
Sandy, der Schäferhund, war vor ihr gestorben. Dann Miriam.  Manchmal wachte er auf. Sah das Motorrad. Und er rannte. Sie blieb stehen. Kratzer. Das Blut war schnell verschwunden. Nach zwei Monaten legte niemand mehr Blumen nieder. Da war er in Berlin.
Jetzt war er hier. Kneipier. Das war schlechter als Polizist, und nicht einmal Polizist hatte er werden wollen. Er steckte das Bild zurück in die Tasche seines Bademantels.
H-H-H-S-V!
Sein Problem jetzt war nicht Hamburg, nicht einmal mehr Miriam. Er war zu müde, sich an sie zu erinnern. Sein Problem legte mit youtube minimalistische Keyboardmusik auf. Sein Problem hatte ihm die ganze Nacht in den Ohren gelegen, war darüber immer betrunkener geworden.
„Sie haben mich angerufen“, hatte sein Problem gesagt. „Direkt nach dem Reus-Tor. Was ein Tor! Ach, Reus! Du wirst Titel gewinnen! Du tätowierter Heiland! Reus, Reus. Der große Reus. Puma wird ihn zahlen! Sie wollen mich sehen. Nur ich kann helfen. Dann ist er endlich frei.“
Es hatte ihn nicht interessiert.
Der Typ war vor ein paar Wochen in die Straße gezogen. Und fiel jeden Freitag, jeden Samstag hier ein.
„Warm trinken fürs Präbel Eck“, sagte er dann.
„Aber vorher noch lecker ins F! Hagenberg-Scholz treffen! War der schon mal hier? Was für ein Vogel ist das bitteschön? Der hat wirklich immer eine Meinung. Ich habe für mich ja beschlossen, einfach keine Meinung mehr zu haben. Ich bin der Ermittler, das ist Dir bewusst? Wenn ich wollte, Hauke, könnte ich alles über Dich rausfinden. Jetzt is aber ersma Hagenberg-Scholz dran. Wat ein Vogel. Natürlich Lehrer! Typ Sozialarbeiter. Kann nichtmal was an der Kanne. Niemand trinkt mehr. Was ist nur los mit der Welt“, hatte er gesagt, und es dann bei jedem Besuch wiederholt.
Einmal, als sich der Laden leerte, hatte er sich mit Berenice angelegt, die auch neu war. Alles war neu im Soldiner Kiez. Nur er nicht. Er war nicht einmal mehr richtig da.
Dembowski und Berenice hatten Musik hören wollen. Sie die echten Gefühle, er, blau wie er war, Meat Loaf. „Rockopern!“ hatte er geschrien und sie hatte Helene Fischer gedrückt. Der Laden stand Kopf. Der Ermittler schrie: „Du wirst dafür bezahlen. Minden! Westfalen!“ Er verschwand. Atemlos. Durch die Nacht.
Klagt ein Vogel, acht auf mein Gefieder. Nässt der Regen, flieg ich durch die Welt.
Er war dann nicht durch die Nacht. Nur in den nächsten Eingang. Treppen hoch. Fenster auf.
 „Rockopern! Nieder mit Mumford & Sons, nieder mit ihren Epigonen! Nieder mit Helene Fischer, Andrea Berg! Abstieg für Großaspach! Bullen nur aus Backnang! Sie können nicht fliegen. Schieber! Du wirst dafür bezahlen! Minden! Westfalen!“
In a tree by the brook, there’s a songbird who sings, sometimes all of our thoughts are misgiven.
Hauke Schill stand im Bademantel auf der Straße. Er war müde. Er war immer müde. Es war kein Nebel mehr. Es war ein Vorhang, der zugezogen war. Und Dembowski hörte minimalistische Keyboardmusik. „Free Shinji! Ich rette dich!“, schrie er.
Als er endlich ging, den 8.48 Uhr-Zug nach Dortmund wollte er schon erreichen, fragte Schill Dembowski, was danach passiert, nachdem Shinji frei war. Nach all den Jahren.
„Das weiß ich auch nicht. Ich habe keinen Plan was die da machen. Ich nenne es die Rückkehr der kapitalmarkorientierten Romantik. Singapur, Asien, das liebe Geld. Sie sehen nur noch das Geld. Ich weiß es doch auch nicht.“
Dann ging Dembowski.

Ein Typ trat aus einem Hauseingang. Schill erkannte nur die Tattoos am Hals. Er war dunkelhäutig. Mitte 20, vielleicht was älter. Dembowski schien ihn zu kennen. Sie umarmten sich kurz, rannten dann auf einen weißen A5 zu, traten gegen den Außenspiegel und stiegen in den Wagen ein.