Koi versteckte sich, die Lamas waren gereizt. Dembowski hatte sich seine Rückkehr anders vorgestellt.
Am ersten Weihnachtstag. Endlich zurück auf der Lamafarm. Es fiel mir schwer, meine innere Ruhe zu finden. Noch kochte das Jahr in mir, und wollte nicht verschwinden.

Bevor ich Bilanz zog, wie ich es immer am Ende eines Jahres tat, eine blöde Angewohnheit zugegeben, zog es mich zu Koi. Dörte hat mein Eintreffen nicht bemerkt. Sie war irgendwo auf der Farm. Vielleicht führte sie ihr Lieblingslama auch gerade entlang des alten Oderarms spazieren. So wie sie es jeden Tag machte.

Es dauerte lange bis ich Koi fand. Vielleicht hat der Seeadler ihn geholt, dachte ich. Für einen kurzen Moment sprang mein Herz. Ich stürzte. Landete auf dem Steg. Mein Kopf tauchte in das kalte Wasser. Es war recht klar. Und so konnte ich – während der Schock des Sturzes mir die Augen öffnete – für den Bruchteil einer Sekunde durch die wenigen Pflanzen hindurch im Wasser suchen.

Koi ruhte unter einem Vorsprung der Uferböschung. Er bewegte sich nicht. War offensichtlich zu erschöpft. Vielleicht auch der Einsamkeit überdrüssig, so dass er mich nun einfach ignorierte. Ich zog meinen Kopf aus dem Wasser. Meine Haare klebten im Gesicht. Der Oderwind kühlte mich runter.

Und obwohl ich fror, und auf Koi sauer war (natürlich: ich war lange nicht mehr bei ihm gewesen), machte ich mich auf die Suche nach Dörte. Langsam ging die Sonne hinter dem Eingangstor der Farm unter, doch ich schritt weiter gen Osten, hinter das Haus, entlang der Zäune, die Dörte in den letzten Monaten quer über das Anwesen gezogen, und so die Alpakas von den Lamas getrennt hatte.

Recht weit hinten, fast schon am Rande des kleinen Waldes, hinter dem sich die Oder ihren Weg entlang der polnischen Grenze ihren Weg in Richtung Stettin bannte, begrüßten mich zwei unserer Lamas. Eins zischte, gurgelte, und zog die Spucke hoch, während es den Kopf, die Ohren gespitzt, in meine Richtung bewegte. Hinter ihm sprang ein anderes Lama (sie hatten keine Namen), auf einen Heuballen und bewegte seinen Kopf zur kleinen Stallung hin.

Ich verstand. Duckte mich, um einer kleinen Attacke zu entgehen, verabschiedete mich von den beiden Krawallbrüdern. Bald schon entdeckte ich Dörte, die besorgt auf die beiden Alpakas blickte. Ihre beiden Neuzugänge bereiteten ihr Sorgen. Langsam bewegte ich mich auf sie zu. Und als ich kurz hinter ihr stand, schrie ich: „Jack Wolfskin-Alarm!“

Dörte zuckte kurz zusammen, drehte sich zu mir, und lächelte: „Glühweinwanderung erst wieder am Freitag!“ Sie drückte mir ein Kuss auf den Bart, strich mir durch die Haare. „Geh schon einmal vor, da ist noch ein wenig Post für Dich im Haus. Ich komm später nach.“

Koi versteckte sich vor mir, die renitenten Lamas bespuckten mich und Dörte schickte mich an die Arbeit. Weihnachten war die Fortführung des miesen Dezembers.  Eines miesen Jahres. Mit zu vielen Menschen, die durch die Hände Semjon Winowskis aus dem Leben genommen wurden. 

Mit zu vielen Rückschlägen, die mich in ihrer Gesamtheit an meiner Liebe zum Spiel hatten zweifeln lassen. Und mit einem verfrühten Abgang aus dem Westfalenstadion, den ich immer noch nicht überwunden hatte. Oh, Malaga!, dachte ich und schlich in Richtung Haus.

Im Kühlschrank fand sich zum Glück noch ein sehr leckeres Kronen. Ich schnappte es mir, ging die Post durch, die, wie immer zu dieser trostlosesten aller trostlosen Jahreszeiten, aus Rechnungen, Rechnungen, Rechnungen bestand. Unerträglich. Unbezahlbar. Allein die Bierrechnungen der letzten Monate beliefen sich auf über 1.000€. Bei Kronen war ich kein Stück weitergekommen.

Sie wollten mir nicht einmal Großhandelspreise gewähren. Meine Kommunikation mit der Radeberger-Gruppe füllte bereits mehre Aktenordner. Was auch immer ich probierte, die Radeberger-Gruppe lieferte zwar, doch schickte sie immer eine Rechnung anbei. Diese bezahlte ich nicht. Wollte ich nicht. Konnte ich nicht. Und sollte ich auch nicht. 

Aber das stand erst im Brief der nächsten Brauerei, die endlich mal keine Rechnung war. Der Brief war ebenfalls von der Radeberger-Gruppe, diesmal jedoch von der PM Berliner Schultheiss. Sie schrieb mir, dass sie meinen Lebenswandel mit großem Interesse verfolge, und überhaupt, als Weddinger wäre „Schulle“ doch wie für mich gemacht. Gerne, schrieb diese Frau Bergendorfer, übernimmt Schultheiss meine Rechnungen als Marketingkosten. Ich müsse bei meinen öffentlichen Auftritten im Kiez nur lauthals auf Schulle bestehen. Mehr nicht. 

Einmal, schrieb Frau Bergendorfer, würden dann die üblichen Lokalblätter wie zufällig, wie Bergendorfer in ihrem Schrieb betonte, mit einem Kamerateam dabei sein. Woher wußte sie überhaupt von mir? Trotzdem beschloss ich, über das Angebot zumindest nachzudenken. Für Bier schenkte ich gerne meine Seele her. Jeder war käuflich.

Die nächsten Rechnungen ordnete ich ungelesen nach gefühlter Wichtigkeit weg. Dörte musste mit ihren Lamatouren endlich einmal Erfolg haben, darauf würden wir uns 2014 konzentrieren. Vielleicht konnte ich Koi auch ein paar Kunststücke beibringen. Dafür aber musste er erst einmal wieder mit mir reden. Das würde dauern. Immerhin aber war ich jetzt bis Mitte Januar auf der Farm, irgendwann würde sich die Gelegenheit dafür ergeben.

Nach all der Ablenkung nahm ich ein letztes Kronen aus dem Kühlschrank. Dörte war immer noch bei den Bretterbuden hinten auf der Farm. Sie verfolgte ihr Leben, so wie ich mein Leben verfolgte. Manchmal führte es uns zusammen, und solange es uns nicht mehr, wie damals am Morskie Oko auseinanderführte, war alles in Ordnung.

Ich ließ mich in einem der speckigen Sessel nieder. Dörte hatte sie in den letzten Monaten auf verschiedenen Flohmärkten im Oderbruch zusammengetragen. Es war wohnlich geworden. Ein Schluck Kronen, ein Blick durch das hintere Panoramafenster über die schwach beleuchtete Farm, mit dem Schuppen am hintersten Ende. Und dann war ich in Gedanken versunken. 2013. Das Jahr, das alles verändert hatte.

Da war zuvorderst die niemals endende Auseinandersetzung zwischen den Bürgern und den Polizisten, die längst über das Fußballfeld hinausgetragen worden war und immer mehr auf den Straßen ausgetragen wurde.
Wir blickten voller Bewunderung auf die Proteste in den abgelegenen Hauptstädten Osteuropas.

Wir bewunderten die Ukrainer, die Türken und manchmal sogar die Griechen für ihr Durchhaltevermögen. Wir waren schockiert, wenn die Staatsmacht die Proteste mit Gewalt auflöste und Politiker aller Parteien reisten nach Kiew, nach Istanbul und solidarisierten sich mit den Protestierenden. 

Alle Medien waren begeistert. Sie lehnten sich gegen die bestehenden Verhältnisse auf, und forderten gravierende Veränderungen in den Machtapparaten der jeweiligen Länder.

So etwas gibt es in Deutschland nicht, schrieben die Zeitungen. In Deutschland lehnt man sich nicht mehr auf. Der Bürger war längst ein willenloser Baustein im Staatskonstrukt und plädierte für ein „weiter so!“. Dass dem so nicht war, konnte man allenthalben auf den Straßen Hamburgs sehen, konnte man in den Stadien des Landes sehen, die letztendlich einer der wenigen Orte des Widerstands geworden waren.

Mochten die Ziele der Fans auch manchmal wenig massenkompatibel sein, so war ihre Organisationsfähigkeit mindestens bewundernswert. Fans der verschiedensten Farben traten, so notwendig, gemeinsam für ihre Sache ein. Dadurch waren sie längst ein Dorn im Auge der glattgebügelten Gesellschaft geworden. Lautstark vertraten sie ihre Ansichten, lautstark verteidigten sie ihre Rechte, und schlugen dabei manchmal über das Ziel hinaus.

Spätestens dann traten die Polizeigewerkschaftler und Politiker vor die Mikrofone und wiegelten die Massenmedien gegen die Fangruppen auf. Schon wurden alle Fans über einen Kamm geschoren, zu Staats- und Systemfeinden erklärt. Dabei wehrten diese sich nur gegen die sich immer schneller drehende Kommerzialisierungsspirale, in die der Fußball in den letzten Jahren gerate war. Ähnliches, dachte ich, passierte auf anderer Ebene kurz vor Weihnachten auch in Hamburg, als die Polizei die Proteste willkürlich niedergeschlagen hatte, dachte ich.

Doch, anders als in Istanbul oder Kiew, suchten die große Öffentlichkeit die Schuldigen nicht im System, sondern untern denen, die sich dagegen, 2013 noch, manchmal noch unorganisiert und ungeschickt wehrten. Denn Deutschland 2013 vertrat die Ansicht, dass ein „weiter so!“ schon seine Berechtigung hatte. Doch wollten wir wirklich so leben, fragte ich mich. Ich nicht. Deswegen hatte ich mich auf die Lamafarm zurückgezogen, und innerlich bereits aufgegeben.

Auch die reine Welt des Fußballs ließ mich 2013 mit einem Kopfschütteln zurück. Die Bayern planierten die Liga, und blickten nun voller Zuversicht auf die Weltherrschaft. In ihrem Größenwahn waren sie dabei, die komplette Liga zu zerstören. Sie nahmen den anderen Vereinen die Luft, und den Fans zunehmend die Lust.
Irgendwann während der kurzen Phase der Dortmunder Romantik hatten sie beschlossen, mit voller Kraft zurückzuschlagen. Das war ihnen eindrucksvoll gelungen. 

Dafür gebührte ihnen eventuell sogar Respekt. Nicht aber dafür, dass sie dabei sämtliche moralische Standards, die im Fußball ohnehin noch nie auf der Straße gelegen hatten, mit Füßen traten und sich in diesem Dickicht aus Steuern, Uhren, Katar zusehends verloren.

Das jedoch zu benennen, das jedoch zu kritisieren, war nicht opportun und bis auf die vereinzelten Wollnys dieses Landes auch außerhalb jeder Diskussion. Mit dem Branchenführer wollte man es sich nicht verscherzen. Und so wurde lieber über die super, super Ideen diskutiert, als den Preis dafür konkret zu beziffern. Der geringste Preis, den die Liga jetzt bezahlte, denn immerhin war der Fernsehvertrag in den Staaten gerade neu ausgehandelt, war das bereits Ende 2013 einsetzende, schwindende Interesse an der Bundesliga, die – an der Spitze – immer mehr zu einer Witzveranstaltung verkam.

Gerieten die Verfolger hinter den Bayern einmal ins Stolpern (und wie sollten sie nicht ins Stolpern geraten), lauerten sie alle auf ihre Chance, die verwundeten Trainer und Vereinsführungen anzugreifen. Nicht aufgrund der sportlichen Misserfolge, sondern aufgrund ihres Desinteresses daran, die durchaus existierenden Probleme an an-den-Haaren-herbeigezogenen Begründungen festzumachen. 

Nicht ohne Grund war die kurze Phase der größten DerSamstag!-Mittelmäßigkeit von uns innerhalb weniger Tage beendet worden. DerSamstag!, dachte ich mit immer schlechterer Laune, war zu nah dran gewesen, um nur mit Mittelmäßigkeit zu glänzen.

Mittlerweile war es spät geworden, und ich hatte mich noch nicht über die FIFA, Olympia, die UEFA, Doping  und all die anderen Sachen aufgeregt, über die ich mich hätte aufregen können.  Doch bereits jetzt konnte ich ein ernüchterndes Fazit ziehen.

„Du weißt immer, was Dir nicht passt“, flüsterte Dörte mir ins Ohr. Ihr Eintreffen hatte ich nicht bemerkt. „Doch indem Du einen Schritt zurücktrittst, verlierst Du Deine Stärke.“ Ich musste die ganze Zeit geredet haben. „Aber dieser Dickicht“, brachte ich ihr entgegen. „Das ist alles nicht wichtig. Bleib bei Dir. Kümmere Dich um die kleinen Dinge.“ Ich stimmte ihr zu.