Der November spendet keinen Trost. Mit Verspätung ist er über die Stadt gekommen. Am letzten Sonnentag des Jahres verziehen sich die letzten Kraniche. Dann breitet der November seinen Grauschleier aus. Binnen Sekunden löscht er alle Erinnerungen an den ewigen Sommer aus. Die Kälte lähmt die Stadt, beraubt sie ihrer Gelassenheit. Die kommenden Monate werden die Menschen der Stadt hinter ihren Fenstern verbringen. Und nach vier sonnenlosen Wochen werden sie Anfang Februar endgültig gebrochen sein.

Der November ist brutal. Dembowski hat er bereits gebrochen. Der Ermittler fürchtet, sich morgens im Spiegel anzusehen. Er hasst den, den er dort sieht. Der Ermittler sieht jemanden, der sich Stück für Stück verkauft hat. Er sieht jemanden, der weder Haltung noch Freunde hat. Er sieht jemanden, dem er nicht mehr traut.

Das ist ein Problem.

Der November zieht Dembowski immer tiefer in den Abgrund. Mit Verspätung ist der November über die Stadt gekommen. Einmal vor einigen Jahren hat die Stadt von November bis März kein Licht gesehen. Der November droht nicht nur. Der November schafft Fakten.

Ohne Licht aber ist Dietfried Dembowski verloren. Sein Notizbuch verrät ihm, wann die Sonne auf- und wann sie untergeht. Für den 22.November hat er sich die Zeiten 7:40 Uhr und 16:03 Uhr notiert. Am 18.Dezember dann steht dort 31.74 Prozent. Das ist der endgültige Tiefpunkt. Der 22.November spiegelt sich im 20. Januar. Dort steht 8:06 Uhr und 16:29 Uhr.

„Nie mehr Licht“, denkt Dembowski. Er hat sich eine Morgenroutine zurechtgelegt. Mit dem sogenannten Sonnenaufgang betritt er das kurze Ende der Wriezener Straße, nimmt einen großen Schluck Kaffee, stolpert über die Straße ins Soldiner Eck, verflucht dabei die lärmenden Autos, die startenden Flugzeuge, schnappt sich ein Schulle, grüßt Schill, geht die Soldiner bis zum Müllstreifen der Grüntaler, beobachtet die Pendler auf ihren Rädern, die manchmal in Laubberge stürzen, kreuzt die Osloer, blickt hinauf zur Bösenbrück, geht entlang des Flüsterasphalts der Jülicher in Richtung Plumpe und biegt dort in die Behmstraße, bis hoch zum Schwedter Steg.

Dort blickt er in den Abgrund, beobachtet, wie sich die Stadt die Menschen einverleibt, sie in ihren grauen Schlund zieht und nie wieder ausspuckt.

„Nie mehr Licht“, denkt Dembowski und geht entlang der Mauer zurück in Richtung Wriezener Straße.  Manchmal sieht er Justin Hagenberg-Scholz, der immer irgendwo hin muss. Dann fängt er ihn ab, um über die neuesten Entwicklungen in der Fußball-Datenbranchen zu sprechen. JHS beklagt sich über die „neuen Player am Markt“, wie er es ausdrückt. Seit seiner Rückkehr in den Soldiner Kiez hat der 45-jährige jede Hoffnung verloren.

„Social Media ist mir auch nichts mehr. Ich kann doch nicht jeden Tag einen neuen Trend ausrufen. Ich kann doch meine Modelle nicht jeden Tag eine neue Entwicklung skizzieren lassen“, sagt er.

„Du wist alt, Justin“, antwortet Dembowski. „Wir alle werden alt und verlieren unsere Berechtigung. Erst sind wir jung und voller Hoffnung. Doch wenn sich unsere Hoffnung mit Leben füllt, hoffen wir schon lange nicht mehr. Dann sind wir alt und ohne Hoffnung. Das bleiben wir bis zu unserem Tod. Unsere Tage werden kürzer. Wir haben nur ein November, und der kommt nicht mit Verspätung.“

„Deep“, sagt Justin Hagenberg-Scholz, reicht dem Ermittler ein neues Schulle. Sie sitzen nun an der Theke im Soldiner Eck. Ciara O’Neill singt.

 „Some were angels, some were sinners. I am not one to judge souls.”

Dembowski blättert sich durch die Online-Ausgabe der Berliner Zeitung. Irgendwer schafft es nicht pünktlich an seinen Arbeitsplatz.

„Eine Bahn ist liegengeblieben! – Eine Empörung von Kirsten Herrmann.“ 

„Was ein Rotz!“

Dembowski pfeffert sein Handy gegen die Wand. Es zerbricht.

Der DID erreicht den Ermittler über das Haustelefon. Es hängt im hintersten Eck.

Herr Dembowski. Wir haben Sie vermisst.

Ich Sie nicht unbedingt.

Was ist denn jetzt schon wieder los?

Frau Kirsten Herrmann hat es nicht pünktlich zur Arbeit geschafft. Die arme Frau ist im Berufsverkehr untergegangen. Darüber hat sie einen Artikel geschrieben. Die Welt ist kalt und dumm.

Länderspielpause, was?

Hören Sie mir doch auf! Die Tage werden kürzer. Ich ertrage das nicht mehr. Mir ist die Länderspielpause egal. Fußball, Fußball, Fußball. Haben wir wirklich keine anderen Themen mehr?

Es ist Ihr Lebensthema, Herr Dembowski!

Es ist mein Überlebensthema! Das ist ein ziemlicher Unterschied. Was wollen Sie eigentlich?

Über Fußball reden. Ist ja viel passiert. Die Liga hat einen neuen Superstar!

Moukoko ist 14 Jahre alt. Der ist kein Superstar. Sein Berater hat ihn trotzdem zu einem Sport-Bild-Interview verurteilt. Er wollte ihn nur schützen, sagte dieser und man fragt sich unweigerlich, welche Informationen dazu geführt haben könnten, dass er seinen Klienten zu diesen wirren Zitaten geraten hat. Diese Worte werden ihm ewig nachhängen. Moukoko ist der neue Freddy Adu.

Wir wollten mit Ihnen nicht über Moukoko, sondern über Alphonso Davies reden. Der 18-jährige Kanadier hat Bayern München 18.75 Millionen Euro gekostet. Zlatan Ibrahimovic sieht für ihn eine strahlende Zukunft. Er ist auf dem Weg zum absoluten Superstar des Weltfußballs…

…wenn man der handelsüblichen Propaganda glaubt. Mach ich aber nicht. Der Junge kommt aus der MLS. Und sofort laden wir ihn mit den unfassbarsten Erwartungen auf. Alphonso Davies, 18, soll nicht nur der bessere Jadon Sancho werden, sondern die Bayern zum siebten Meistertitel schießen. Drunter geht es nicht mehr. Jedes Mal. Gerade da unten an der Säbener Straße. Erinnern Sie sich noch an Renato Sanches?

Ja. Der steht im aktuellen Bundesliga-Kader der Bayern.

Das ist korrekt. Aber selten auf dem Platz. Als er vor 2 Jahren eintraf, war er bereits Weltfußballer. Das ist anstandslos. Der Fußball ist komplett durch. Renato Sanches ist Mittelmaß und passt somit natürlich perfekt in den Münchener Kader. Aber vielleicht wäre er mehr als Mittelmaß geworden, hätte man ihm ein wenig Luft gegeben, ein wenig Platz, um sein Talent zu entfalten. Doch stattdessen hat man die sinnlosesten Klauseln publik gemacht, um mit den allerhöchsten Fantasiesummen einen maßlos überteuerten Transfer zu rechtfertigen. Die Bundesliga? Beste Liga der Welt. Schaut her, der kommende Weltfußballer ist auch schon da und nicht in Manchester. In England ist man doch in den letzten Jahren aus dem Lachen nicht mehr rausgekommen. Breel Embolo? Schalke statt England. Das war die irrwitzigste aller irrwitzigen Transferverkündungen.

Trinken Sie wieder, Herr Dembowski?

Die Kraniche sind weg.

Das ist allgemein bekannt. Was wir nicht wissen. Haben Sie die Nations League geschaut?

Nein. In der Länderspielpause schalte ich ab. Die Nations League find ich gewiss nicht schlecht. Aber immer on sein? Da verbrennt man.

Neil Young sang einst: It’s better to burn out but to fade away. Haben Sie keine Angst, in Vergessenheit zu geraten?

Mein Profil habe ich trotzdem geschärft…

…mit einem zweifelhaften Rundumschlag gegen etablierte Medien…

…die sich alle empörten. Das habe ich mit Genugtuung beobachtet. Es ist gut, wenn Leute miteinander streiten. Sonst weiß niemand mehr, woran man ist. Geredet wird ohnehin. Meist hinterm Rücken.

Ihre Position blieb unklar.

Meine Position ist die des Beobachters, der mit Klarheit und Haltung von den Dingen berichtet. Ich finde es faszinierend, wie John sein Gift versprüht.

Stichwort: Klarheit und Haltung. In ihrer Berliner Wahlheimat spielt sich aktuell eines der größten Dramen der Liga ab. Michael Preetz hat die Kabine verloren. Die Geschäftsführung wollte sch mit dem umstrittenen Digitalexperten Paul Keuter solidarisieren, die Mannschaft sollte dafür als Gesicht herhalten.

Das berichtet der kicker und die Berliner Morgenpost fordert im immerhertha-Podcast den Abschied Keuters. Fakt ist: Hertha BSC kann sich auf einen langen, harten Winter gefasst machen. Als die Sonne noch schien, träumte Lazaro von der Champions League. Jetzt muss die Dardai-Truppe aufpassen, nicht das Team zu werden, das von Europa träumte und in der zweiten Liga aufwachte.

Das ist eine düstere Prognose.

Das ist eine realistische Prognose. Im gesamten Vereinsumfeld wird ausschließlich mit Halbwahrheiten hantiert. Wir erleben hier, was gestörte Kommunikation auslösen kann. Keuter ist der Bad Cop in einer Geschichte, in der es keinen Good Cop gibt. Hertha ist eine Barkasse im aufgewühlten Ozean des Modernen Fußballs. Teilen der Fans genügt das. Doch diese werden irgendwann nicht mehr kommen. Sie haben mit dem Fußball längst abgeschlossen. Sie sehnen das Ende herbei. Und vertreiben sich die Zeit bis zur Beerdigung mit letzten Kämpfen. Sie wollen nicht allein stürzen.

Und der Rest?

Ein anderer Teil möchte mit Frank Zander in die Champions League einziehen! Er möchte modernen Fußball im alten West-Berlin. Aber West-Berlin gibt es nicht mehr.

Daraus folgt?

Hertha müsste das Publikum komplett austauschen. Aber dafür brauchen sie ein neues Stadion. Aber Hertha ist ein Berliner Verein und in Berlin bekommst Du nicht einfach so ein neues Stadion. Fußball ist hier nur eine Unterhaltungsmöglichkeit unter tausenden Unterhaltungsmöglichkeiten, und nicht einmal eine besonders attraktive. Insofern ist der aktuelle Kampf in der Hauptstadt hochspannend. Wir beobachten den Umbruch des Fußballs wie unter einem Brennglas. In Berlin löst Fußball keine Emotionen aus. Hier sehen wir wie in einem Labor, welchen Weg der deutsche Fußball gehen wird, wenn man ihn emotional entkernt.

Das Gegenteil von emotional entkernt ist die Dortmunder Südtribüne. Die Ruhr Nachrichten berichten nun von erneuten Versuchen Dortmunder Nazis, diese zu unterwandern.

Eine großartige Recherche von Peter Bandermann. Leider gibt es sonst wenig Positives darüber zu sagen. Der BVB wird wohl noch lange damit kämpfen müssen. Ich war lange nicht mehr in Dortmund, doch wenn man die Berichte über den Dortmunder Westen liest, muss man davon ausgehen, dass sich die Nazis auch in den nächsten Jahren immer mal wieder auf die Süd begeben werden. In einer Stadt, in der Fußball alles ist, bleibt das Stadion der beste Ort Macht zu demonstrieren.

Sportlich läuft es jedoch weiter rund.

Klar. Tabellenführer. Jetzt in Mainz gewinnen und die Tabellenführung bis zur Winterpause verteidigen. Von Spiel zu Spiel denken. Was anderes würde ich den Borussen ohnehin nicht raten.

Wieso?

Lesen Sie denn kein Internet?

Selten!

Sollten Sie tun. Eins ist gewiss: Auf ein sportlich erfolgreiches Jahr wird ein aufgeregter Transfersommer folgen. Witsel, Pulisic, Sancho, Bruun Larsen, Akanaji, Diallo. Sie alle werden den Verein über kurz oder lang wieder verlassen. Als Fußballfan darf man sich nicht mehr mit Transferangelegenheiten beschäftigen. Dann verschwindet das Licht. Der Mensch aber braucht Licht.

Herr Dembowski, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Dafür nicht.

Dembowski öffnet sein fünftes Schulle. Es war Zeit für Jesse Sykes.