Am Tag, an dem die Football Leaks schon wieder die Nachricht von gestern waren, fand im Berliner Olympiastadion das spannendste Spiel des Spieltages statt.

Zwar hatte der BVB am Mittellandkanal die Chance auf das letzte Liga-Ausrufezeichen vor dem nun wieder weltweit mit Spannung erwarteten Spiel gegen die schwächelnden Bayern, die sich gegen Freiburg beweisen und nebenbei ihren geplanten Bundesliga-Ausstieg wegmoderieren mussten.

Doch die wahren Dramen würden sich nicht dort, sondern vielmehr im Olympiastadion abspielen. Hertha BSC gegen RB Leipzig. Auf dem Papier ein Spitzenspiel, dazu beispielhaft für die vielen Konfliktlinien im Bundesliga-Fußball 2018/2019.

In Berlin war die heile Welt der Hahoherrlichen innerhalb weniger Wochen zerbrochen. Längst war der 2:0 Erfolg gegen Kovacs Truppe eine ferne Erinnerung an bessere Zeiten, in denen alles möglich schien.

Weitestgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit war Hertha in den letzten Spielen in die Vorboten einer sportlichen Krise geschlittert, die vom glücklichen 2:2 in Dortmund und dem anschließenden Pokalerfolg in Darmstadt noch einigermaßen erfolgreich verschleiert werden konnte. Gegen Leipzig aber drohte nun das vierte sieglose Liga-Spiel in Folge, und somit der endgültige Sturz in das erweiterte Mittelfeld.

Das jedoch spielte am Samstag im Olympiastadion nur eine untergeordnete Rolle. Die politisch gewollte Eskalation im Gästeblock des Westfalenstadions hatte das ohnehin bereits nicht von ausdrücklicher Freundlichkeit geprägte Verhältnis zwischen der Ostkurve und der Hertha-Geschäftsführung noch einmal ein Stück runtergekühlt.

Zwar durfte nach anfänglichen Streitigkeiten Frank Zander nun bei einem jedem Heimspiel seine melancholische Hymne auf den West-Berliner Vorzeigeverein vortragen, doch der feindlichen Atmosphäre hatte das kein Abbruch getan. Auf der einen Seite standen die Ultras, die sich vom Verein schon länger nicht mehr abgeholt fühlten und auf der anderen Seite die Vereinsführung, deren Handeln nahelegte, dass sie die Ultras auch nicht mehr unbedingt abholen wollen.

Die eine Seite fürchtete die andere Seite. Die Angst vor Veränderung traf auf die Angst vor ewigem Stillstand.

Anfang Oktober hatten nächtliche Besucher Herthas ungeliebten Geschäftsführer Paul Keuter an seinem Haus im durchgentrifizierten Prenzlauer Berg eine Botschaft hinterlassen. Seit Amtsantritt 2016 von einem Großteil der lauten Fans angezweifelt, manchmal gar verhasst, hatte er die „Keuter Raus!“-Gesänge im Stadion bislang ausgehalten. Er war der Bad Cop, der den Verein anders dachte als ein Großteil der Fans. Er wollte sicherstellen, dass Hertha auch im Zeitalter der Superklubs überleben konnte.

Den meisten Fans aber war das Zeitalter der Superklubs ohnehin ein Dorn im Auge. Es war nicht mehr ihr Fußball, dafür benötigten sie nicht die neuesten Football-Leaks-Enthüllungen.

Die Botschafter also warnte den zweifachen Familienvater Keuter, dass sich die Anfeindungen gegen seine Person in Zukunft nicht nur auf die sozialen Medien und den Spieltag beschränken könnten. Sie waren in einen privaten Bereich eingedrungen, den der Digitalmensch Keuter bislang wenig geschützt hatte.

Während sich der Verein mit dem ehemaligen Twitter-Manager solidarisierte, die Graffiti-Botschaft aufs Schärfste verurteilte, ging diese Grenzüberschreitung im Rest des Landes nahezu unter.

In diese Stimmung nun fiel das von NRW-Innenminister Reul als „in dem Zusammenhang notwendig“ bezeichnete Eingreifen der Polizei Minuten nach den eigentlichen Pyro-Vorfällen und die sich daran anschließende Schlägerei zwischen Ultras und Ordnungshütern, bei der es neben mindestens 45 Verletzten durch Pfeffersprayeinsatz und Gewalt ausschließlich Verlierer gegeben hatte.

Natürlich: Ein unaufgeregter Blick auf die Vorfälle legte nahe, dass sich die Berliner Fans hier mit einiger Freude in eine von der Polizei aufgestellte Falle geprügelt hatten. Ihre Eskalation als Antwort auf die Sicherstellung der Fahne war als das eigentliche Problem ausfindig gemacht worden. Dass verletzte Berliner über Nacht in Dortmunder Krankenhäusern verblieben, diese Nachricht ging unter Meist also wurde nur eine Seite dieser dreckigen Medaille beleuchtet.

Im Nachklang der Ereignisse rückte einigen Medien Kinder in den Mittelpunkt. Sie waren die eigentlichen Opfer der Gewalt. Sie hatten nun Angst, ein Fußballstadion zu betreten. Hieß es in handschriftlichen Briefen, denen man ihre „shareabiltiy“ nicht absprechen konnte. Ohnehin: Gegen Kinder ließ sich schlecht argumentieren. Andere Medien forderten Wasserwerfer in Stadien.

Und während der DFB Ermittlungen ankündigte, die Polizei auf einer eilig anberaumten Pressekonferenz ihre Unfehlbarkeit einräumte, stand man in Berlin vor einem neuen Scherbenhaufen, der in der Kürze der Zeit nicht mehr zusammengekehrt werden konnte.

Wohl auch in Vorgriff auf eine mögliche DFB-Strafe und aus Angst vor Bannern gegen das Kunstprodukt aus der sächsischen Boomtown, verbannte Hertha bis auf weiteres fast alle Fanutensilien aus dem Stadion. Die Szene reagierte wie zu erwarten. Sie kündigte für das Spiel einen Stimmungsboykott an. Ein Treffen im Vorfeld zwischen den beiden Streitparteien platzte.

Im Stadion selbst füllten sich die Ränge nur langsam. Plante die Kurve neben einem Stimmungsboykott noch mehr? Sie tat es nicht. Als Zander seine Hymne sang, standen die Ultras im Block. Anstatt Fahnen und Bannern füllten schwarze Kleidung und einige Schals den Raum, ein einsames Banner lehnte sich gegen Kollektivstrafen auf.

Nach 45 Minuten führte Hertha nach Expected Goals, manchmal stimmte jemand ein bald vom Schweigen absorbiertes “Hahohe” an.

In der Halbzeit gewann ein zufällig anwesender Köln-Fan ein Auto.

In der zweiten Halbzeit schleppte sich ein träges „Ohne Leipzig wär hier gar nichts los“ durch Stadion. Ein 19-jähriger Aushilfscapo in kurzen Hosen belebte die Ausläufer der Ostkurve mit wild kreisenden Armen. Er schafft es in das Aktuelle Sportstudio, in die Berliner Morgenpost. Aber nach Cunhas Treffer geht das Spiel für die chancenlose Hertha mit 0:3 verloren.

Tags drauf werfen die Harlekins der Berliner Geschäftsführung „Erpressung“ vor. Man habe vor einem Runden Tisch, einem Eintreten in einen neuen Dialog ein „verpflichtendes Vorgespräch“ verlangt.

Am Abend zeigt die ARD ihre Football Leaks-Dokumentation.

An den Zeitenübergängen gibt es Sollbruchstellen