Ein grauer Tag im Soldiner Kiez. Der Wetterdienst verspricht ein wenig Abkühlung für die Hauptstadt. Über den Dächern der Soldiner rauschen die Flieger in Richtung Tegel. Heute landen sie. Deutschland hat sich vor 9 Tagen von der WM verabschiedet. Seit seinem Rückzug aus dem Tagesgeschäft wurde Dietfried Dembowski nicht mehr gesichtet.
Wir sehen Miriam Wu im DID-Büro, Ecke Prinzenallee. Die Internationalisierungsikone sitzt vor ihrem Monitor. Sie schaut sich eine Pressekonferenz an. Es ist die vom 15.06.2018, zwei Tage vor dem WM-Start der deutschen Nationalmannschaft. Es sprechen Joshua Kimmich und danach Oliver Bierhoff, DFB-Scout Christofer Clemens, SAP-Vorstand Stefan Ries und Sven Schwerin-Wenzel, der Senior Development Manager des deutschen Softwaregiganten.
Eine irre Verkaufsshow. Wu spult vor und zurück. Sie ist begeistert. SAP und die App. Vorsprung durch Technik! Dann spult sie erneut vor und zurück. Die Internationalisierungsexpertin will keine Aussage verpassen. Hier ist alles wichtig.
Vorstand Ries verteilt Infokladden, natürlich mit dem fünften Stern. Oliver Bierhoff sagt: „Das ist alles kein Blabla-Marketinggag.“ Aber bereits hier gibt der DFB-Manager erste Hinweise auf das spätere Scheitern.
Der Ex-Stürmer warnt: „Am Ende ist der Mensch entscheidend. Do the unexpected. Sie machen Dinge, die man nicht voraussagen können.“ An diesen unerwartet menschlichen Auswüchsen wird Die Mannschaft, wie Bierhoff sie liebevoll nennt, zerbrechen. Wie er dort auf dem Podest sitzt, denkt Wu, da ist ihm das bereits klar.
Diese PK ist aber auch darüber hinaus der Türöffner in die Welt der größten Zukunftsprobleme des deutschen Fußballs.
„Fußball,“ sagt Schwerin-Wenzel, „ist eine ideale Spielwiese für Machine Learning, Deep Learning und Künstliche Intelligenz.“ Und Christofer Clemens ergänzt: „Wir wollen Trendsetter sein. Es gibt aber durchaus andere Verbände, den englischen Verband zum Beispiel, die sich Gedanken machen.“
Da liegt der Hund begraben, denkt Wu. Denn wenn der englische Fußball jetzt nicht nur in der Liga sein Geld sinnvoll in Köpfe und erst dann Beine investiert, sondern der Verband zusätzlich auf dem Gebiet der Technik am DFB und den an SAP angeschlossenen Vereinen vorbeizog, was bliebe dem deutschen Fußball überhaupt noch übrig?
Darauf hat Wu keine Antwort. Aber sie muss liefern. Im Sekundentakt klingelt ihr Posteingang. Die Chinesen. Sie wollen nicht nur darauf eine Antwort, sondern auch auf den Marketing-Spruch der Schalker. „The Spirit Of Miners – The Soul Of Football“
Wu verzweifelt und über ihr rauscht eine A330 der Turkish Airlines in Richtung Landebahn. Der Flieger ist halb gefüllt. Doch er demonstriert die Stärke der türkischen Flotte.
Das Telefon klingelt.
DID ist der DID! Miriam Wu hier. Wie kann ich Ihnen helfen?
Dembowski!
Dembo?
Sach ich doch.
Sie wollten nicht mehr reden! Sie wollten schweigen, Dietfried.
Nach all den Jahren der engen Freundschaft liegt immer noch eine große Distanz zwischen der Expertin und dem Ermittler. Sie respektieren sich, doch bedienen sie sich am Telefon einer großen Professionalität.
Ich wollte für immer schweigen, aber wir müssen über Bierhoff reden.
Das macht doch ohnehin jeder, Dietfried. Was können Sie zu dieser Debatte noch beitragen?
Bierhoff ist nervös. Der DFB ist nervös. Ich habe, wie es meine Art ist, schon vor langer Zeit einen harten, achtjährigen Winter vorausgesagt.
Exakt. Wie es eben Ihre Art ist, Herr Dembowski. Sie sind sehr deutsch. Sie spielen immer sämtliche Untergangsszenarien durch.
Irgendwer muss das tun. Nur so lassen sich die Dinge, wie sie dann später geschehen, bereits im Vorfeld vernünftig einordnen. Das Aus kommt ja nicht überraschend. Es gab so viele Anzeichen. Man hätte sie nur deuten müssen. Das hat niemand getan. Meine Stimme hat gefehlt.
Deswegen sind Sie wieder da. Weil Sie glauben, jemand habe Sie vermisst? Machen Sie sich nichts vor, Dembowski, wir sind alle ersetzbar. Für Sie macht die Welt da keine Ausnahme.
Und wenn schon. Dieser Irrsinn vom besten Trainingslager aller Zeiten. Was mich gewundert hat: Löw spricht recht früh eine Stammplatzgarantie für Manuel Neuer aus. Das haben alle bemerkt, notiert und diskutiert. Dass er damit auch das Leistungsprinzip ausgehebelt hat, auch. Aber niemand hat im Vorfeld davon geschrieben, dass mit Jerome Boateng und Mesut Özil zwei Leistungsträger aus langen Verletzungen kamen, dass sie bereits davor nicht in WM-Form waren. Indem Löw aber Neuer eine Stammplatzgarantie erteilt, macht er dies auch für Boateng und Özil.
Den man, so sagt Bierhoff jetzt, überhaupt nicht hätte mitnehmen sollen. Aus sportlichen Gründen, die im politischen liegen.
Ja. Das mit den sportlichen Gründen habe ich auch nicht verstanden. Ohnehin gab es genug Exit-Strategien vor der WM. Özil, der ohnehin angeschlagen war, hätte man doch noch bei der finalen Kadernominierung aus Verletzungsgründen nach Hause schicken können. Oder die Dinge benennen können. Dass ein Spieler, der Erdogan unterstützt nicht für die Nationalmannschaft auflaufen kann. Hätte ich mich auch aufgeregt. Aber es wäre im Vorfeld des Turniers passiert. Es wäre eine Haltung gewesen, wenngleich eine fragwürdige.
Hat man alles nicht getan, vielmehr den Medien die Schuld an dieser Diskussion gegeben, die ja längst entglitten war. Die zu Gesprächen mit Steinmeier und Merkel geführt hat. Staatskrise eben. Und dann hat mit im Verlaufe des Turniers den Medien für alles die Schuld gegeben hat.
Und jetzt Mesut Özil?
Dieser Verdacht liegt doch nahe. Man stößt den Türken in den Abgrund, damit der deutsche Fußball leben kann. Muss man sich eben nur vorstellen, was da alles für Attacken kam und aus welchem Lager die kam. Hat sich niemand vor die Spieler gestellt. Hat sich niemand für interessiert. Hat jeder seine eigene Haut retten wollen. Und den anderen die Schuld gegeben, und wenn es keine anderen gab, dann waren es die Medien. Das zieht immer. Man findet immer etwas, was einem gerade nicht passt. Das war schon hart an der Lügenpresse dran. Und aus diesem Blickwinkel muss man das lesen.
Welchen Blickwinkel meinen Sie, Herr Dembowski?
Schauen Sie sich doch das allgegenwärtige politische Klima hier in Deutschland an. Es ist verkommen. Unsere Art der Kommunikation ist auf allen Ebenen gescheitert. Wir kennen nur noch laut. Niemand ist mehr leise. Wir werden nicht gehört, wenn wir leise sind. Dann können wir auch gleich schweigen. Wenn wir aber gehört werden wollen, müssen wir schreien, müssen wir die extremsten Positionen vertreten, die Wahrheit beugen, unsere eigene Wahrheit schaffen, darauf hoffen, dass wir so laut sind, mit dieser eigenen Wahrheit gehört zu werden, um dann gemeinsam noch viel lauter zu werden.
Dass die Menschen zu laut sind, haben Sie bereits häufiger erwähnt, Dembowski.
Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen: Ich habe neulich vor einem Supermarkt gesessen. Dort auf einer Mauer ein Bier getrunken. Ereignet sich folgende Situation: Ein Mann tritt in mein Blickfeld. Er trägt eine dreckige Hose, an der sich die Spuren zu vieler Nächte auf der Straße deutlich zeigen. Seine Haut ist die eines Alkoholikers, glatt, rot, erweiterte Adern im Wangenbereich. En paar Meter weiter liegt jemand im Blumenbeet. Er schläft, vielleicht lebt er auch schon nicht mehr. Das interessiert niemanden.
Ein paar Meter donnern die Autos die Hauptstraße entlang. Jetzt sehe ich noch einen Mann. Er ist klein, hat einen rundlichen Bauch. Er trägt ein schwarzes Hemd. Security. Jemand hat ihm diese Macht gegeben. Die spielt er nun aus. Er schreit den Mann mit der zerrissenen Hose an. „Hausverbot. Hau ab, Du Lump!“ Diese Dinge. Der eine Mann geht. Was soll er sonst auch machen?
Der andere Mann, der mit dem Security-Shirt und der Macht, schimpft jetzt. „Die sollte man alle in ein Boot setzen, aufs Meer fahren. Gewichte ans Bein. Und dann reinschmissen. Dass diese Parasiten versinken. Niemals mehr auftauchen.“ Er unterhält sich jetzt mit einem zufälligen Passanten. „An der Grenze bauen die jetzt Lager. Diese Menschen dürfen nicht mehr in unser Land. Richtig so!“
Ich bin dann aufgestanden. Ich bin dann gegangen.
Tolle Geschichte, Dietfried. Aber was hat die mit Özil, was hat die mit Bierhoff zu tun?
Ich will Ihnen nur darlegen, in welchem Klima wir leben. Das hat sich ja nicht irgendwo ereignet. Das hat sich in Berlin-Mitte ereignet. Bis dahin, bis in die geschützte Mitte des Landes hat sich das vorgearbeitet. Seit Jahren bereits setzen einige Politiker hier auf die externe Bedrohung, die unser System einstürzen lassen könnte.
Und jetzt nehme ich ein paar Abkürzungen. dann bin ich hier: Dagegen, sagen diese Politiker, müsse man sich wehren. Und dann schreien sie wieder, drohen mit dem totalen Chaos, wenn sie ihren Willen nicht bekommen. Der wird ihnen dann gewährt. Ist ja besser als Chaos. Was ohnehin schon herrscht. Sie lähmen das Land, in dem sie es mit ihrer Angst vor einer fiktiven Bedrohung überziehen. Und dieses Kniffes bedient sich Bierhoff jetzt. Bewusst oder unbewusst. Das ist seine Sache. Die Wucht seiner Aussage wird ihm bewusst gewesen sein. Hier bedroht der Fremde das Konstrukt Die Mannschaft. Hier reißt der Fremde alle anderen Spieler mit in den Abgrund. Deswegen muss er verstoßen werden.
Das sind ein paar Abkürzungen zu viel. Da sagt Bierhoff nicht, Herr Dembowski.
Natürlich nicht. Aber ich schreie! Und er baut sich da Fluchtwege ein. Er wird sagen, dass er es so nicht gemeint hat, und dass er da nur falsch interpretiert worden sei. Woher kennen Sie das?
Von den neuen Populisten.
Genau. Von denen kenne wir das. Und das macht alles so gefährlich. Wir müssen wieder zu einer Klarheit in der Sprache finden. Wir müssen Dinge wieder eindeutig benennen. Das tut Bierhoff nicht, nicht einmal in diesem Interview mit all seinen Andeutungen. Hier wird nichts benannt, außer der Hauptschuldige. Zwischen den Zeilen. Und mit doppelter Absicherung.
Was muss denn jetzt passieren?
Bierhoff muss zurücktreten.
Und dann? Lassen wir Özil die Geschichte einfach so durchgehen? Und sägen Bierhoff ab? Was macht das mit der Spaltung, wenn der Deutsche gehen muss, weil er vor dem Türken nicht gekuscht hat.
Was zum Teufel?
So wird doch die Erzählung sein, Herr Dembowski. Machen Sie sich nichts vor.
Die Erzählung der Rechten. Die hat uns nicht zu interessieren. Wir müssen unsere eigene Erzählung schreiben. Wir müssen leiser werden. Wir müssen nicht mehr Sender memekompatibler Worte sein, sondern unsere Sprache wiederfinden.
Herr Dembowski. Gewonnen hat hier doch eigentlich nur Erdogan?
Das ist korrekt.
Danke für den Anruf, Herr Dembowski.
Ich melde mich bestimmt nochmal.