Justin Hagenberg-Scholz spürte den kalten Hauch der Geschichte. Er zog die Krempe noch ein Stück weiter runter. Die nächsten Stunden würden über seine Zukunft entscheiden. Kurz vor 4:15 Uhr Ortszeit hatte er die Lieferung erhalten. Oben das Holz, unten in die Kisten. Ein Truck, wie er ihn schon immer hatte fahren wollen. Er lebte den amerikanischen Traum. In diesem Moment war der DID-Wahlforscher der wichtigste Mensch auf dem Planeten. Er blickte auf das Feuer und den stillen See. Er nahm einen Schluck CafKiBa. Noch einmal scrollte er durch seine Timeline. Es ging mal wieder um alles.

Vor Wochen, als er rübermachte, hatte er sich das alles ganz anders vorgestellt. Die Wahlen beobachten. Weit vor dem entscheidenden Tag swingte nichts mehr. Seine 538-Karte war in ein tiefes Blau getaucht. Doch bevor er die perfekte Welle singen konnte, hatte sich das Blatt gewendet. Rot hatte die entscheidenden Stellen besetzt. Alles hing nun an ihm. Eine alte Freundin, Nina Clifton, mit der einst beim RKI entscheidende Modelle entwickelte und die es nun nach Pittsburgh verschlagen hatte, konnte ihm den Hinweis geben. Ein paar Anrufe später und jetzt stand er hier im rauen Norden Maines.

Er zog die Krempe noch ein wenig tiefer, richtete seinen Mantelkragen, schnipste seine Kaugummizigarette auf den Boden. JHS drehte den Zündschlüssel und rollte los. Der kleine Pfad, der runter zur Lodge führte, brachte ihn auf die Tea Pond Road. Sie fädelte sich ostwärts durch den Wald. Einmal querte ein Elch die Straße. Sonst sah er noch die Lichter seiner Scheinwerfer. In einer Hütte flackerte das blaue Licht der ewigen Wahlnacht.

„Geschichte ist das, was passiert, während andere Leute CNN schauen“, dachte JHS. Er lachte hysterisch. Dass er Geschichte schreiben würde, das er hatte immer kommen sehen. Er drehte das Radio auf. Er war wieder der kleine Junge im Münsterland, der sich in einer Eisdiele in Lüdinghausen in die große Welt träumte. Er war weit gekommen. Doch noch hatte er die Tea Pond Road nicht verlassen. Und es war verdammt dunkel. Es ging nun Richtung Norden. Der Wald hatte ihn verschluckt. Kurz vor den Bänken des Alders brach die Buckelpiste westwärts weg. Lange würde das die Maschine nicht mehr mitmachen. Endlich gelangte er auf die 27.

Nordwärts entlang der Seen und der zerklüfteten Berge, die Maschine kämpfte schwer, einige Baumstämme rollten die Schlucht ab, er hielt und rollte sie wieder hoch. Es war früh und hier war niemand. Er erreichte Coburn Gore gegen Mittag. Noch schnell ein CafKiBa in der Black Arrow Lodge, unverbindliche Gespräche und rüber. Er dachte an RaRa und an Berenice. Dann parlierte er unter einem gelben Tor mit der Border Patrol.

 „Hi. I am the Justin Hagenberg-Scholz from the Gesundbrunnen borough. You know? Health fountain. In Berlin. Awesome! Very good beers. But I prefer the cherrybanacoffee, the CheBaCo, they serve here! Ever had one? Back to Berlin. The Mauer. It was a border. Next to it: Historic sites like Soldiner Eck. Great Eckkneipe! You‘ll love it!”, erzählte er und sah, dass alles gut werden würde.

Sein Herz schlug bis zum Hals, doch er erklärte die Pandemie, skizzierte die Modelle und nahm einmal seine Maske ab. Niemand interessierte sich für seine Worte, niemand interessierte sich hier oben für seine Ladung. „Do you know Schulle?“, fragte er. Die Border Patrol hatte genug. Sie prügelten den Wahlforscher aus der Grenzstation. Eine Minute später hielt sein Truck auf der kanadischen Seite. Er blickte zurück in die Sonne auf die Berge Maines. Justin Hagenberg-Scholz lächelte zufrieden. Er kaute auf seiner Kaugummizigarette.

Dembowski blickte auf sein Telefon. Vielleicht Tage, vielleicht Stunden, vielleicht aber auch Monate waren vergangen seit er das letzte Mal von JHS gehört hatte. Der Ermittler hatte den Überblick verloren. Gerade noch hatte er mit Schill auf der letzten Party des Jahrhunderts zusammengesessen und in den erneuten Lockdown reingefeiert, um sich dann erst vom Wiener Anschlag ernüchtert und von der Alaba-Eskaklation amüsiert zu zeigen. Da waren sie bereits 48 Stunden im Soldiner Eck und warteten. Der Plan war perfekt. Es würde dauern.

Dembowski trank, Schill zapfte, die Jukebox lief, sie sangen „you can’t stop a new age dawning“, sie tanzten, vertrieben die Schutzmänner, sie waren 2 Haushalte und sie waren in der Überzahl. Und von überall blickten die Augen Jake Tappers auf sie. Wenn er nur wüsste. Es lief perfekt. Trump lag vorn, außerhalb der Eckkneipe lag die Welt in Trümmern. Dembowski genehmigte sich ein Schulle und entglitt in den längsten Dienstag der Geschichte. Irgendwann würden alle Stimme ausgezählt sein und dann wäre dieser Tag auch abgehakt. Es dauerte nur einen Moment. Sie mussten geduldig bleiben.

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„Bin drüben“, schrieb JHS. Er lebte und mit ihm all die Beweise, die Giulianis Existenz waren. Es war der Coup des Jahres. Niemand hatte es dem unscheinbaren Datenpapst zugetraut.  Wu löste die Kette aus. Sie hatte sich bislang im Hintergrund gehalten. Jetzt ging es los. Rufumleitung in Philadelphia. Das Staffelfinale würde episch werden. Schill machte sie auf zum Flughafen, Dembowski blieb im Soldiner Eck. Der Klassiker. Er sah eine Niederlage!

Wir treffen Dembowski am Montag. Er ist endlich bei den Kranichen. Er ist bei Koi. Er hat es geschafft. Er ist wieder da draußen. Von ihrem Coup würde nie jemand etwas erfahren.


Hallo, Herr Dembowski.

Hallo DID! Ein herrlicher Tag, nicht?

Der Ballspielverein hat gegen Bayern verloren.

Das hat mich letztmals 2014 im Berliner Olympiastadion bewegt. Das interessiert mich nicht mehr.

Es war spannend. Die Experten sind sich einig. Das war eine mutige Niederlage.

Ich frage mich immer, wer sich solchen Unsinn ausdenkt. Im Fußball gibt es nur Siege oder Niederlagen.

Und Unentschieden.

Das sind in fast 100 Prozent aller Fälle Niederlagen für die eine oder für eine andere Mannschaft. Auch im Ligensystem befinden wir uns im permanenten KO-Wettbewerb.

Der BVB war mutig, couragiert, hat nach vorne gespielt und „am Ende des Tages“ hatten die Bayern einfach mehr Glück. Das muss der Liga Hoffnung machen.

Ich wiederhole mich ungern: Wenn Sie glauben, dass eine Niederlage des einzig verbliebenen Bayern-Konkurrenten der Liga Hoffnung schenken soll, dann sind Sie eben auf der falschen Seite. Der Fußball, Achtung mein Lieblingsthema!

Nicht schon wieder. Legen Sie doch mal eine andere Platte auf, Herr Dembowski.

Der Fußball hat sich überlebt. Er existiert noch, weil er sich eben in unseren Alltag geschlichen hat. Jetzt lungert er da rum und wir verfolgen die Wissenschaften, die sich um ihn gebildet haben, mit gesteigertem Desinteresse. Was zur Hölle soll an diesem Script noch spannend sein, was soll uns da noch Hoffnung machen?

Sie sagen mal wieder nichts.

Nur ein Beispiel. Als Kimmich Haaland umnieten will und sich dabei eine Schutzverletzung zuzieht, gibt es eben keine Rote Karte und Thomas Müller darf seine Anweisungen durchs gesamte Stadion brüllen. Schiedsrichter Gräfe, der später ja für seine überragende Leistung Liebesbriefe erhalten will, ist beeindruckt. Gibt für die versuchte Körperverletzung nur ne Gelbe Karte. Das entscheidet das Spiel.

Sie machen die Niederlage an der Kimmich-Verletzung fest?

Das war der Schlüssel.

Bewegen wir uns mal von Ihren Verschwörungstheorien weg. Mit Reyna, mit Sancho, mit Bellingham, mit Haaland und Moukoko gehört dem BVB die Zukunft. Das macht der Liga doch Hoffnung.

Ich bin nicht die Liga. Und ich habe keine Hoffnung mehr. Wenn dieser Pandemie-Quatsch vorbei ist, haben Leute wie Rüdiger Rabe den Fußball vergessen. Wenn der aber Leute wie Rüdiger Rabe verlieren, verliert er alle. Der Fußball braucht den schwimmenden Sportliebhaber, der sich mal für diesen und dann für jenen Sport interessiert. Oder für ganze andere Dinge. Der Ausgang der Spiele ist mittlerweile so überraschend wie eine Wahl in Russland.

Immerhin wird noch gespielt. Die Tests laufen weiter.

Dabei hat das RKI die Teststrategie geändert. Die Tests werden knapp. Die mit milden Symptomen werden nicht mehr getestet. Das kann nicht mehr geleistet werden. Symptomfreie Fußballer werden konstant getestet. Das verstehe ich nicht.

Die Tests sind sicher, sagt die DFL. Sind ja nur 0.2 Prozent aller Tests.

Andere Teile der Unterhaltungsindustrie nehmen nicht 0.2 Prozent aller Tests in Anspruch. Aber gut, die Liga muss sich verteidigen. Was mir missfallen hat: Die Liga erklärt den Medienunternehmen und den Journalisten, dass sie am Tropf dieser Tests hängen. Dass sie ohne Tests in die Erwerbslosigkeit abgleiten werden. Das Stockholm-Syndrom! Machen wir uns nichts vor: Niemand braucht den Fußball. Jeder wird sich neu orientieren können. Der Fußball, das habe ich erläutert, hat seine Relevanz verloren. Das Geld ist noch da, aber es geht ihm aus.

Blicken wir auf Oliver Bierhoff. Der spricht mit Handwerkern, die sich nicht mehr an das Lagerfeuer Nationalmannschaft setzen. Er hält die hämische Kritik an der Nationalmannschaft für überzogen. Die dunkle Wolke, sagt er, lässt sich nicht vertreiben. Und das sei unfair. Das sei seit 2018 so. Und bei jeder Länderspielmaßnahme wird es schlimmer.

Das ist der große Bierhoff-Fehler! Das WM-Aus 2018 ist nicht ursächlich für die feindselige Stimmung im Land. Es ist nicht die junge Mannschaft, die den Menschen Probleme bereitet. Ich kann das nicht mehr hören. Immerhin gesteht er den Protestierenden in Leipzig ihre Meinung zu. Er nimmt die Sorgen der Bevölkerung noch ernst und kritisiert Fußball-Nostalgiker, die RB Leipzig nicht so okay finden. Ihm gelingt es, in wenigen Minuten die feindselige Stimmung im Land auf den Punkt zu bringen. Er merkt es aber nicht.

Nochmal zurück zu den Bayern. Robert Lewandowski ist in Polen in einen heißen Kriminalfall verwickelt.

Dazu kann ich nichts sagen, außer: Dembowski ermittelt! Der Geschichte fehlt noch ein Mordfall, etwas Sex und dann wird das schon.

Ehrlich?

Na klar. Ich möchte Ermittler des Jahres werden.

Dann wünschen wir ihnen viel Glück.

Danke dafür.

Abschlussfrage: Wo steckt eigentlich JHS?

In Quebec.

Hat er die Stimmzettel?

Das Interview ist an dieser Stelle vorbei.

Robert, dachte Dembowski, ist jetzt auch schon bald vier Jahre nicht mehr da. Alles stirbt.