Das Leben auf der Lamafarm war ruhig, es kam ohne die Aufregung der Großstadt aus, und es bot die Gelegenheit, in der Natur seinen Frieden zu finden. Das, was in der Stadt von Bedeutung war, spielte hier keine Rolle. Die Tage begannen mit der aufgehenden Sonne und die Tage endeten mit der untergehenden Sonne.
Auch Dembowski zog es immer wieder, und immer häufiger zurück in den Oderbruch. Manchmal saß er am See, wartete auf Koi und wenn sich dieser, meist nur für einen kurzen Moment, an der Oberfläche blicken ließ, schauten sich Ermittler und Karpfen an. Sie waren gute Freunde. Da sahen sie in diesen kurzen, seltenen Augenblicken. Sie waren kostbar.
Wenig später tauchte Koi wieder hinab in den kalten See und wartete auf den Sommer. Er wartete nicht, weil sich etwas für ihn verändern würde, sondern weil er das Warten liebte. Es machte seine Existenz greifbar. Musste er auf etwas warten, wusste er, dass er noch da war. Ohne das Warten, dachte Koi, wäre alles hinfällig.
Dörte hatte genug zu tun. Jetzt im Frühling erforderten die Lamas ihre ganze Aufmerksamkeit. Die häufigen Besuche des Ermittlers machten sie glücklich, aber natürlich konnte sie ihm das Großstadtleben nicht austreiben. Er war hier nur Gast.
Sie hingegen nannte die Lamafarm ihre Heimat. Abends, wenn es draußen nichts mehr zu tun gab, empfing sie die Bewohner der nahegelegenen Gehöfte und Ortschaften. Sie war, das wusste hier jeder, die Oderbruch-Psychologin.
Als Dembowski nach dem Monaco-Spiel erschöpft in den Oderbruch zurückkehrte, auf dem letzten Schulle die Einfahrt hinaufschritt, hatte er den DID im Schlepptau. Es gab Klärungsbedarf. Nur Dörte konnte jetzt helfen.
Dörte, toll, dass Du Zeit für den DID hast. DID ist super. Wie läuft es auf der Farm? Und vor allen Dingen: Was machen die Lamas?
Für den DID nehme ich mir die Zeit. Von der habe ich eigentlich momentan wenig. Nicht ganz unschuldig daran sind die Lamas. Es geht ihnen gut, aber sie machen im Frühling besonders viel Arbeit. Sie müssen regelmäßig gekämmt werden, damit es im Sommer keine böse Überraschung gibt. Da wünschte man sich schon, ein Tag hätte 27 Stunden.
Spannend. Und Koi?
Mit Koi ist es ähnlich. Er hat zwar seine Winter-Depression einigermaßen überstanden, ist aber direkt in eine starke Frühjahrsmüdigkeit abgerutscht. Es war für mich nicht immer einfach, damit umzugehen. Ich bin zu nah an Koi dran, als dass ich mit professioneller Distanz drauf gucken könnte. Bin mir aber sicher, dass es besser wird, wenn das Wasser langsam wärmer wird.
Du bist im ganzen Oderbruch als Oderbruch-Psychologin bekannt. Dann kannst Du uns sicher helfen. Auf die Spieler des BVB wurde am vergangenen Dienstag ein Anschlag verübt. Am Tag drauf, rund vier Stunden vor Anpfiff des Spiels gegen Monaco, werden erste Details veröffentlicht. Metallsplitter haben sich in eine Kopfstütze gebohrt. Trotzdem trat die Mannschaft an. War das eine richtige Entscheidung?
Das ist schwer zu sagen. Auf der einen Seite ist es gut, dass das “normale Leben” weitergeht. Ich denke, auch der Rückhalt der Fans in dieser Situation sehr wichtig war. Das vermittelt dann ein Gefühl der Verbundenheit und gibt dem Spiel dann auch eine Art Sinn, im Sinne von “wir spielen heute mit Symbolwert” oder “wir sind stärker als Ihr”. Es ist sehr wichtig, in so einer Situation nicht alleine zu sein und eine Gemeinschaft zu spüren. Wie es jedoch im Inneren jeden einzelnen Spielers aussieht, ist natürlich eine andere Frage. Den einen verunsichert eine solche Situation mehr als den anderen, jeder findet einen eigenen Weg, wie er am besten darauf reagiert, was ihm am meisten hilft, so etwas zu verkraften. Ich frage mich allerdings schon, wie es nach solch einer Information, wie sie es einige Stunden vor dem Anpfiff gegeben hat, möglich sein soll, von dem Anschlag und den Informationen unbeeinflusst auf dem Platz zu stehen.
Wo genau liegen die Gefahren in der Verarbeitung einer derartigen Situation?
Wichtig ist, dass nach einem solchen Erlebnis schnell wieder ein Gefühl der Sicherheit etabliert wird. Dass der Kopf begreift, dass das was passiert ist, ein “Ausnahmezustand” war, und jetzt aber vorbei ist, jetzt wieder Sicherheit besteht. Schwierig wird es, wenn nach solch einem Ereignis weitere verunsichernde Faktoren hinzukommen. Problematisch ist auch, nicht zu wissen, wer es war und eine Art allgemeine Hilflosigkeit zu spüren. Wenn die Täter bekannt sind, dann kann gegen sie vorgegangen werden. Dann kann potentiell wieder Gerechtigkeit hergestellt werden. Das ist wichtig zur Verarbeitung und zum Abschließen mit den Ereignissen. Wenn mehrere ungünstige Umstände zusammenkommen, kann die Verarbeitung erschwert werden und die emotionalen Folgen können bestehen bleiben und belastend sein.
Welche Hilfestellungen können von psychologischer Seite gegeben werden?
In erster Linie ist erst einmal das Umfeld von größter Bedeutung. Wenn hier gut reagiert wird, dann ist schon der größte Beitrag geleistet. Wichtig dabei ist ein offenes Ohr für die Betroffenen, zu signalisieren, dass man sich für sie interessiert und da ist, ohne sie zum Reden zu zwingen. Auch hier sind die Menschen, die so etwas erlebt haben, unterschiedlich: der eine hat das Bedürfnis, das Erlebte wieder und wieder durchzusprechen, dem anderen hilft es eher, sich abzulenken und bewusst Schönes entgegenzusetzen. Es ist wichtig, den Betroffenen auch deutlich zu machen, dass es überstanden ist und den Fokus auf die Ressourcen des Einzelnen zu legen. Psychologen können in der akuten Phase helfen, indem sie über die “normalen körperlichen und emotionalen Reaktionen auf dieses unnormale Ereignis” aufklären. Das kann schon entlasten bei einer sogenannten akuten Belastungsreaktion. Wenn jemand merkt, dass er auch nach einigen Wochen noch sehr unter dem Erlebten leidet, kann ein Psychologe begleiten und helfen, die Dinge besser zu verarbeiten.
Wie lange kann der Verarbeitungsprozess dauern?
Auch das ist sehr unterschiedlich und individuell. Bei manchen geht das sehr schnell, sodass es gar keine Schwierigkeiten gibt, andere wiederum haben auch noch nach Jahren damit zu kämpfen. Du weißt ja, dass ich viele Jahre mit sehr belasteten Menschen gearbeitet habe, deren Umstände leider nicht so sind, wie die von Top-Spielern, und die über lange Zeiträume furchtbare Dinge erlebt haben. Auch da war ich immer wieder überrascht, was für unglaubliche Fähigkeiten Menschen auch unter schwersten Bedingungen haben. Dort habe ich dann aber natürlich auch gesehen, dass Menschen die Ereignisse über viele, viele Jahre mit sich tragen. Das glaube ich in diesem Fall nicht. Ich gehe davon aus, dass die schützenden Faktoren hier überwiegen und den Spielern helfen werden. Vergessen werden sie es sicher dennoch nicht. Aber ablegen in die Erinnerungs-Bibliothek des Gehirns.
Was sind die möglichen Symptome? Schränken diese die Spieler in ihrer Leistungsfähigkeit ein?
Die Symptome nach solch einem Ereignis sind natürlich auch vielfältig und unterschiedlich. Sie reichen von einem Zustand der erhöhten körperlichen Erregung, über Angstgefühle, Schlafschwierigkeiten bis hin zu sich aufdrängenden Erinnerungen und Einschränkungen in der Aufmerksamkeit. Ich gehe davon aus, dass die Spieler mental so fit sind, dass sich die Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit nicht übermäßig zeigen. Aber im Bereich des Spitzensport geht es nunmal auch um minimale Leistungsunterschiede. Da sind dann schon geringe Abweichungen von Bedeutung. Man muss keine Oderbruch-Psychologin sein, um verstehen zu können, dass die Spieler nach solch einem Ereignis nicht mit freiem Kopf auf den Platz gehen.
Kann diese Geschichte kurzfristig auch leistungsfördernd sein?
Interessante Frage. Es kann schon sein, dass die Motivation steigen könnte. Im Sinne von “jetzt erst recht”. Aber insgesamt denke ich, dass das keinen allzu großen Einfluss haben dürfte und die gefühlte Verunsicherung mit einhergehenden Einbußen überwiegt.
Der Ballspielverein gewann gegen Frankfurt, reiste dann unter Polizeischutz zum Flughafen und von dort über Nizza nach Monaco. Der Mannschaftbus wurde dann für 16, 17 Minuten festgehalten. Aus Sicherheitsgründen. Kann diese Situation für die Spieler belastend sein?
Natürlich. Das ist äußerst verunsichernd in solch einer Situation. Dazu ist das gerade Erlebte noch zu präsent. Da können schnell Gedanken und Ängste aufkommen, dass jetzt schon wieder eine Gefahr droht.
Welche Auswirkungen kann das kurzfristig haben?
Das kann dazu führen, dass die Erinnerungen an den Anschlag in der Woche davor sich plötzlich wieder sehr real und präsent anfühlen. Es können die gleichen Gefühle erneut kommen, die in der Situation auch vorherrschten und ein Gefühl der Hilflosigkeit entstehen. Das ist gar nicht günstig, um das Erlebte gut verarbeiten zu können.
Du nennst das eine akute Belastungsreaktion. Kann sich das zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln? Ab wann spricht man davon?
Von einer Posttraumatischen Belastungsstörung spricht man erst, wenn auch vier Wochen nach einem traumatischen Ereignis noch bestimmte Kriterien an Symptomen erfüllt sind und sich die Symptome – die ja wie gesagt nicht bei jedem auftauchen müssen – nicht von alleine legen. Die Hauptkriterien sind da, ob jemand ständig körperlich in Alarmbereitschaft ist, wiederkehrende, belastende Erinnerungen an das Erlebte aufweist und in gewisser Art vermeidet, sich mit dem Erlebten und allem was damit zusammen hängt, zu konfrontieren. Das kann dann wirklich eine sehr belastende Symptomatik sein, die manchmal auch erst lange nach dem Ereignis erstmalig auftritt und man sich dann wundert, was plötzlich los ist. Bei den Spielern gehe ich aber insgesamt davon aus, dass sie die besten Möglichkeiten haben, das Erlebte gut zu verarbeiten und dass es nicht unbedingt zu Störungen mit Krankheitswert kommt. Inwieweit sich es sich dennoch auch langfristig auf die Leistungsfähigkeit auswirken kann, dazu müssten die Kollegen aus der Sportpsychologie mehr sagen können. Dazu bin ich dann doch zu sehr Oderbruch-Psychologin.
Dörte, eine Frage noch: Können Lamas jetzt helfen?
Ich bin froh, dass Du fragst. Lamas können jetzt entscheidend sein. Durch den Kontakt zum Tier werden Entspannungs- und Glückshormone freigesetzt, die den Stresshormonen entgegen wirken. Ich biete allen betroffenen Spielern an, auf die Farm zu kommen. Sie könnten beim Kämmen helfen und dabei die positiven Wirkungen des Fellkontakts unmittelbar erleben.
Ich danke Dir für das Gespräch.
Nichts für ungut. Ich muss los. Tschau.