Isolation Wolfsburg. Teleskopzeit. Während die Welt an der Oberfläche still steht, wirbelt darunter alles durcheinander. Die Meinungen gehen auseinander. Wie kommt die Welt aus der Coronakrise, wie wird es den einzelnen Ländern gelingen, in die Normalität zurückzukehren und wie wird diese aussehen? So viele Fragen. Die Ermittler Dietfried Dembowski zwischen zwei Schulle nun wirklich nicht stellen kann. Aber ein paar Fragen gehen immer.
Diesmal an Sportökonom Dominik Schreyer, der an der WHU – Otto Beisheim School of Management – lehrt und forscht.
Hallo, Herr Schreyer! Sie erforschen die Veränderungen im Sportkonsumentenverhalten. Was lässt sich da in Zeiten des Stillstands überhaupt noch erforschen?
Richtig! Ich interessiere mich im Rahmen meiner Forschung insb. für die Entwicklung der Stadionnachfrage im Profifußball. Hier interessiert mich derzeit vor allem ob, bzw. wann, die Zuschauer ihr Verhalten im Zuge eines exogenen Schocks, wie bspw. der rasanten Ausbreitung des Corona-Virus, verändern. Dabei schauen meine Kollegen und ich derzeit vor allem auch nach Weißrussland.
Sie erwähnen Weißrussland. Die Liga geht weiter. Die Bedrohung ist da. Die Zuschauerzahlen sinken. Was können Sie als Wissenschaftler aus diesem „Feldversuch“ schließen? Welche Dynamiken könnte man für zukünftige Forschungen mitnehmen?
Tatsächlich sehen wir, dass die Zahl distribuierter Tickets in der höchsten Spielklasse des weißrussischen Fußballs derzeit von Spieltag zu Spieltag zurückgeht. Dies bedeutet zunächst einmal lediglich, dass die Fans vor Ort ihr Verhalten offensichtlich zeitnah, und vor allem auch ohne entsprechende Restriktionen, adaptiert haben. Ein Grund hierfür ist sicherlich zunächst, dass die wahrgenommene Bedrohung vor Ort mit jedem weiteren Corona-Fall steigt. Hinzu kommt verstärkend, dass mittlerweile zahlreiche Fangruppierungen aktiv auf die derzeitige Bedrohung durch das Virus hinweisen und gleichzeitig zum Boykott des Stadionbesuchs aufgerufen haben. Ich denke, dies sind unter den gegebenen Umständen zunächst einmal grundsätzlich positive Nachrichten. Aus der Terrorismus-Forschung wissen wir aber auch bereits, dass selbst zeitweise verängstigte Zuschauer schnell wieder in die Stadien zurückkehren, wenn die wahrgenommene Gefahr langsam nachlässt. Wir werden sehen, ob, bzw. wann, dies in Weißrussland ebenso ist.
Die Coronavirus-Krise kam nicht über Nacht. Die Liga in Italien war bereits in Teilen ausgesetzt, da gingen die Spiele in anderen Ländern noch weiter. Gab es in diesen Ligen bereits vergleichbare Effekte zu beobachten? Sank das Interesse an den Spielen mit der zunehmenden äußeren Bedrohung?
Tatsächlich gibt es bereits erste Erkenntnisse der Kollegen aus Reading, die in einem Arbeitspapier zu durchaus unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen: So ist die Zahl distribuierter Tickets in Italien und Frankreich nach Ausbruch der Krise erwartungsgemäß zurückgegangen, während es in Deutschland und England zunächst offensichtlich keinen direkten Effekt gab. In Spanien wiederum sind die Zahlen zunächst sogar noch gestiegen. Ich gehe davon aus, dass die Kollegen das Thema in den kommenden Monaten verstärkt bearbeiten werden, um noch besser zu verstehen, was mit Ausbreitung des Virus genau in den Stadien geschehen ist. Ein Grund für die konträren Ergebnisse, und darauf weisen die Kollegen auch hin, könnte darin liegen, dass die bislang vorliegenden Daten sog. No-Shows derzeit noch nicht berücksichtigen – also Fans, die trotz Ticket am Spieltag selbst schließlich nicht im Stadion waren.
Der europäische Fußball steht vor einer gänzlich neuen Situation. Niemals zuvor wurden die Profiligen Europas für so lange Zeit ausgesetzt. Gibt es trotzdem historische Beispiele für das Verhalten von Fans in solchen Ausnahmesituationen?
Nein, ich denke nicht! Es wird zwar bereits oft angeführt, dass es im Nachgang der beiden Weltkriege jeweils zu einem nachhaltigem Zuschauerwachstum kam, hier sprechen wir aber natürlich von einer Zeit, in der es deutlich schwieriger war, ein Live-Spiel außerhalb des Stadions zu verfolgen.
Gibt es dennoch Anhaltspunkte, wie sich das Interesse entwickeln wird, wenn Fans wieder ins Stadion gelassen werden?
Um ehrlich zu sein, fällt es mir schwer, hier eine verlässliche Prognose abzugeben. Auf der einen Seite höre ich oft das Argument, dass die vielen Fans das Spiel natürlich vermisst haben werden und den Stadionbesuch nach langer Wartezeit dementsprechend unbedingt nachholen werden wollen. Das kann natürlich durchaus sein! Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es, wenn es dann soweit sein wird, natürlich auch maßgeblich auf die dann vorherrschenden Rahmenbedingungen ankommen wird: Fühlen sich die Fans im Stadion und auf dem Weg dorthin sicher? Können (und wollen) sich die Fans den Stadionbesuch weiterhin leisten? Oder bleiben sie doch lieber auf der heimischen Couch?
Sie haben in den letzten Jahren immer wieder auf die steigende No-Show-Rate, die Zahl der nicht erschienen Ticketinhaber, im Fußball hingewiesen. Anhand welcher Daten berechnen Sie die? Welche Faktoren ziehen Sie zur Berechnung heran?
Der Großteil der bisherigen Studien wurde zunächst mit Hilfe aggregierter Zutrittsdaten, also realen Beobachtungen echten Zuschauerverhaltens, realisiert, die mir die Liga zur Verfügung gestellt hat. Mittlerweile arbeite ich aber auch verstärkt mit einzelnen Clubs im Europäischen In- und Ausland zusammen.
Die Entwicklung der No-Show-Rate, die im Vergleich mit den Werten in anderen Ligen und Industrien in der Bundesliga übrigens derzeit noch vergleichsweise gering zu sein scheint, interessiert mich dabei aber eher am Rande: Vielmehr habe ich, gemeinsam mit einer Reihe von Kollegen weltweit übrigens, zunächst untersucht, welche Faktoren die Nachfrage am Spieltag tatsächlich beeinflusst. Hier beobachten wir bspw., dass die No-Show-Rate jeweils zu Beginn und zu Ende einer Saison vergleichsweise hoch ist, dass das Wetter, insbesondere die Temperatur, und natürlich auch die Attraktivität des jeweiligen Gegners eine signifikante Rolle spielen. So sinkt die Zahl der sog. No-Shows bspw. bei Derbies und auch bei Heimspielen von Aufsteigern beobachten wir grundsätzlich eine eher geringe No-Show-Rate. Wir wissen zudem mittlerweile bspw. auch, dass die No-Show-Rate unter Dauerkarten-Inhabern in der Regel deutlich höher ist, als unter Inhabern von Tageskarten, und welche Rolle bspw. der Dauerkartenpreis, bzw. die sozio-demografische Eigenschaften des Dauerkarten-Inhabers in diesem Zusammenhang spielen.
Im nächsten Schritt wird es nun darum gehen, darauf aufbauend Maßnahmen zur Maximierung der realen Stadionausnahmen abzuleiten und diese dann im Feld zu testen.
Die No-Show-Rate ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen, die Zuschauerzahlen blieben einigermaßen konstant. Trifft die Krise auf einen Fußball auf dem absteigenden Ast?
Nein, soweit würde ich nicht gehen! Tatsächlich ist die reale Zuschauerauslastung, das heißt, der Anteil der am Spieltag im Stadion tatsächlich besetzten Plätze, in den vergangenen Jahre zwar ein wenig zurückgegangen, die Stadionnachfrage ist in der Bundesliga aber weiterhin auf einem vergleichsweise hohen Niveau.
Damit diese zukünftig weiterhin so hoch bleibt, und dies ist ja insbesondere auch für eine ganze Reihe externer Club-Stakeholder maßgeblich, werden sich die Verantwortlichen in den einzelnen Bundesliga-Clubs jedoch zeitnah sehr intensive Gedanken darüber machen müssen, welche Rolle das Stadion in ihrer Strategie zukünftig tatsächlich spielen soll und wie das Stadionerlebnis für die unterschiedlichen Zielgruppen ggf. gezielt angepasst werden muss. Hier ist in den letzten Jahren insgesamt zu wenig passiert.
In einer 2018 veröffentlichten Studie machen Sie auf den wirtschaftlichen Verlust bei Catering und Merchandise durch die No Shows aufmerksam. Kann man diesen konkret beziffern?
Dies ist recht schwierig, weil die Informationslage hier damals wie heute noch vergleichsweise schlecht ist. Grundsätzlich gehen wir in Europa derzeit von einem Umsatz von durchschnittlich rund 5 Euro pro Zuschauer und Spieltag aus. Geht man von den zuletzt etwa 13 Mio. distribuierten Tickets und einer No-Show-Rate von rund 10 Prozent aus, entgehen den Bundesliga-Clubs durch sog. No-Shows derzeit also theoretisch etwas über 6.5 Mio. Euro pro Saison. Hinzu kommen die besagten fehlenden Einnahmen im Bereich Merchandising, die aber recht schwierig zu beziffern sind, sowie gegebenenfalls auch Parkgebühren.
In anderen Wirtschaftsfeldern gibt es das System der Überbuchung. Es werden mehr Tickets verkauft als Plätze vorhanden sind. Ist das im Fußball auch denkbar?
Ja, natürlich! Dabei handelt es sich zudem keineswegs um ein Zukunftsszenario, denn an einigen wenigen Bundesliga-Standorten, bspw. in München, wird in bestimmten Bereichen des Stadions, in der Regel im Stehplatzbereich, bereits heute gezielt überbucht. Ein Bundesliga-Club mit einer konstant hohen Ticketnachfrage kann dementsprechend sogar signifikant von den sogenannten No-Shows profitieren, wenn er seine Strategie entsprechend anpasst.
Eine weitere Strategie, die bereits im US-Sport zur Anwendung kommt, ist das Dynamic Pricing. Die Zuschauerzahlen schwanken. Spielt die alte Dame Hertha gegen Hoffenheim, trauen sich kaum 40.000 Zuschauer ins Stadion, spielen sie gegen Bayern ist das Olympiastadion im Vorfeld ausverkauft. Könnten die Eintrittspreise in Zukunft tagesaktuell gesteuert werden?
Tatsächlich gibt es auch in der Bundesliga durchaus bereits zaghafte Bemühungen einer solchen dynamischen Bepreisung – Ob diese aber tatsächlich täglich, stündlich oder sogar in Echtzeit an die aktuelle Nachfrage angepasst werden, wage ich jedoch einmal zu bezweifeln. Unabhängig davon ist es aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine solche dynamische Bepreisung nicht nur bedeutet, dass die Preise bei starker Nachfrage steigen werden, sondern, je nach Strategie, oft natürlich auch, dass die Preise bei einer geringen Nachfrage sinken können. Die Einführung einer solchen Maßnahme kann also ggf. durchaus dabei helfen, die Stadionauslastung zu maximieren, wenn ein Club diese Maßnahme bewusst kommunikativ moderiert und dabei die Interessen von Bestandskunden, insbesondere Dauerkarten-Inhabern, nicht aus den Augen verliert.
All die Maßnahmen muss der Fußball auch treffen, weil die technischen Änderungen wie der Einsatz des VAR das Spiel stadionunfreundlicher gestaltet haben. In Berlin will die alte Dame Hertha ein neues Stadion mit einer 50.000er-Kapazität bauen, nur zwei Drittel des Fassungsvermögens des Olympiastadions. Werden wir in Zukunft generell kleinere Stadien sehen?
Ja, davon bin ich überzeugt! Wie zuvor beschrieben gibt es bereits heute erste Anzeichen dafür, dass die reale Stadionnachfrage zumindest langsam zurückgeht. Wenn diese Tendenz weiterhin anhält, und es gibt derzeit keine nachhaltigen Indizien die dagegen sprechen würden, werden sich die Clubs mittelfristig etwas einfallen lassen müssen um den Stadionbesuchern, den Medienpartnern und Sponsoren weiterhin ein gewohnt emotionales Umfeld bieten zu können. Ich kann mir deshalb sehr gut vorstellen, dass die Kapazitäten zumindest mittelfristig an eine etwaig sinkende Nachfrage angepasst wird. Wir werden sehen, ob die derzeitige Krise diese Tendenz eher beschleunigt oder ggf. noch einmal etwas verlangsamt.
Vielen Dank für das Gespräch!