Schill schlägt noch einmal drauf. Die Mauer stürzt in sich zusammen. Dembowski nimmt einen Schluck Schulle und jubelt. „Die Mauer muss weg, die Mauer ist weg“, ruft er durch das verlassene Soldiner Eck. „Kannst Du nicht endlich mal ruhig sein“, fragt der Wirt. Aber natürlich kann Dembo nicht ruhig sein. Wieso auch? Das hier ist beste Unterhaltung inmitten dieser gottverdammten Pandemie. Seine Lieblings-Eckkneipe aller Zeiten, sein Wohnzimmer wird renoviert und er kann dabei zuschauen. Das ist perfekt. Mit den Händen hat er es nicht so. Das soll Schill übernehmen. Er will Bier trinken, Musik hören und Fußball schauen. Anstrengend genug.
Wir sind hier, um mit Dembowski zu reden. Er muss die Welt ordnen. Denn sie ist wieder einmal in Gefahr. „Die Welt ist immer in Gefahr. Immer will sie jemand zerstören“, schimpft Dembowski und dreht die Musik noch ein wenig lauter. Doch wir lassen uns nicht abspeisen. Wir stellen die Fragen! Und der Ermittler muss sie beantworten. So geht das Spiel. Es ist sein Spiel. Vorher gewinnt der BVB in St. Petersburg und in Paris verlassen die Spieler den Platz. Es ist Dienstag, der 8. Dezember 2020. Vor 40 Jahren wurde John Lennon erschossen.
Hallo, Herr Dembowski!
Hören Sie doch mit Ihren Höflichkeiten auf!
Herr Dembowski! Der Ballspielverein zieht als Gruppensieger in die KO-Phase der Champions League ein.
Ein Zeichen der Schwäche der anderen Teams. Der BVB holt 12 Punkte aus den Vergleichen mit Zenit und Brügge und einen Punkt aus den zwei Spielen gegen die biedere Durchschnittsmannschaft Lazio. Da ist es dann auch egal, gegen wen der BVB in der Runde der letzten 16 antreten wird. Dort heißt es wieder: Endstation, alle aussteigen. 18 Punkte für die Vereinswertung. In Zement gegossenes Mittelmaß.
Trainer Lucien Favre wird mittlerweile für jeden Fehlpass kritisiert. Auch Sie wirken verzweifelt. Ich zitiere: „Meistens verspielt der BVB erst im Februar, im März alles. Das erledigen sie jetzt eben im Dezember. Hashtag: justanotherÜbergangssaison!“
Dieser triste Ballbesitzfußball macht mich noch verrückt. Dieses von Julian Brandt perfektionierte Desinteresse an Zweikämpfen, die Abgeschlagenheit des Kapitäns, um den herum die Welt zusammenbricht, der nicht nur Geschwindigkeit, sondern auch das Spielverständnis verloren hat. Das sind für mich die Symbole des Dortmunder Zerfalls…
…der den BVB als Gruppensieger in die KO-Phase der Champions League geführt hat und der den BVB auch in der Liga in Schlagdistanz zur Tabellenspitze belässt.
Mit Kaderkosten, die nichts anderes rechtfertigen würde. Wir reden hier von einem Minimalziel. Natürlich darf der BVB in der Bundesliga nicht nach 10 Spieltagen hoffnungslos abgeschlagen sein. Aber es geht doch darum: Ohne Haaland fällt der Borussia überhaupt nichts ein. In einem Jahr wurde das Spiel so extrem auf diesen einen Spieler zugeschnitten, dass überhaupt nicht bemerkt wurde, wie um ihn herum jeder einzelne Spieler nicht besser, sondern schwächer wurde.
Jetzt ist Erling Haaland schuld an der BVB-Misere, Herr Dembowski?
Das sage ich doch überhaupt nicht. Ich sage nur, dass der BVB nur Haaland kann. Das müsste sogar ihnen aufgefallen sein. Schauen Sie hier: Hat Justin Hagenberg-Scholz zusammengestellt.
Dembowski überreicht uns einen kleinen Notizblock mit wirren Zahlenkombinationen, mit Pfeilen und Positionen. Mit Packing-Werten und Expected Goals. Mit Berechnungen, die so bislang niemand angestellt hat. Sie sagen nichts aus.
Sehr interessant, Herr Dembowski. Mit Yousouffa Moukoko ist der BVB ebenfalls stark. Plus 4 und minus 4 berichten die Kollegen von Goal Impact.
Dann befragen Sie die doch. Seit seinem Debüt stolpert der BVB durch die Liga. Er kommt immer für die letzten Minuten, also eben für jene Minuten, in denen der Ballspielverein ohnehin immer trifft. Weil man den Gegner müde gespielt hat, wie Favre sagt. Oder weil man eben die Welt wieder einmal zu Tode gelangweilt hat, wie ich sage.
Sie wollen lieber spektakuläre Niederlagen? Wie Auf Schalke?
Die haben jetzt Harit begnadigt. Letzte Chance. Haben sich jetzt auch zweimal in Folge nicht abschlachten lassen. In der Summe stehen da also nach zwei sehr soliden Leistungen 1:7 Tore und 0 Punkte. Wo soll das denn hinführen, wenn die mal in eine fußballerische Krise geraten? Schalke 04 geht in der Saison aber sowas von runter.
Justin Hagenberg-Scholz sagte den Schalker vor einiger Zeit eine glänzende Zukunft voraus.
JHS ist ein Datenfuchs, aber er kann nicht in die Seele der Menschen blicken. Da hätte ein Blick hinter die Daten genügt. Ihm geht das total ab. Sonst ist er ein feiner Mensch…
…der jetzt wieder beim RKI ist. Wir haben das mitbekommen. Eigentlich wollte er in diesem Jahr den Reporterpreis abstauben. Wofür eigentlich?
Das frage ich mich auch. Aber, nochmal, JHS ist ein guter. Er wird den DID in Katar vertreten.
Interessant. Erst einmal kommt Katar nach Europa. Sie spielen die WM-Quali der UEFA mit.
Katar kommt auch nach Nordamerika, nach Südamerika. Katar wird 2021 überall sein. Sie müssen sich jetzt auf die Heim-WM vorbereiten. Und es ein Zeichen der Solidarität des Weltfußballs, dass sie dem Gastgeber der Winter-WM bereits jetzt Gelegenheit geben, auf großer Bühne zu proben. Natürlich: Das wird jetzt überwiegend kritisch gesehen, teilweise sogar dem DFB angelastet. Das ist absurd. Im Rahmen des Fußballs hat Katar jedes Recht, sich auf dieses Turnier vorzubereiten.
Sie kaufen sich in die Märkte ein, Herr Dembowski.
Das ist keine neue Entwicklung. Sie wird vor der WM auch nicht mehr zu stoppen sein. Die größten Kritiker werden dann im Jahre 2022 die leidenschaftlichsten Fans werden und von einem wunderbaren Turnier schreiben. Das dürften wir doch in diesem Jahr gelernt haben. Wenn es um die eigene Haut geht, ändern die Menschen ihre Meinung schlagartig. War Profifußball früher ein Spiel, das für die Zuschauer ausgetragen wurde, ist es nun ein Spiel, das auf den Wettkampf auf dem Platz runtergebrochen wurde. Und das absurdeste daran ist: Wenn sich jemand an die Zuschauer in den Stadien erinnert, wie die Hertha-Spieler nach ihrem Sieg gegen Union, gilt dies gleich als von einer Agentur gesteuert. Der Profifußball hat eine Glaubwürdigkeitskrise, die sich in dieser Kritik manifestiert. Das alte Bild der Söldner ist ein zutiefst modernes geworden. Zusätzlich überwiegen dann auch die Glaubenskämpfe zwischen den einzelnen Klubs. Das ist tragisch. Das ist aber Fakt.
Sie springen hier aber wild hin und her.
Das Schulle.
Schon gut, Herr Dembowski. Die Söldner, die Spieler also verließen gestern in Paris den Platz.
Katar, immer wieder Katar. Hier also war die Äußerung eines vierten Offiziellen genug. Und endlich ist mal etwas passiert.
Die von Erdogan installierte Mannschaft protestiert gegen Rassismus. Das ist doch ein Treppenwitz.
Sie sprechen Spielern wie Demba Ba ab, eigenständig zu handeln. Man kann für diesen Verein spielen und Rassismus als Rassismus benennen. Es gibt da auch keine Alternative. Wenn 2020 etwas gut war, dann doch der Weg, den vornehmlich die schwarzen Spieler beschritten haben. Thuram, Sancho, McKennie in der Bundesliga damals bei Black Lives Matter. Immer wieder Rashford. Jetzt Demba Ba. Das ist ganz fantastisch. Da passiert etwas. Sie lassen sich nicht mehr beschimpfen, sie haben ein ganz anderes Selbstverständnis entwickelt und zeigen immer wieder die Probleme dieser Gesellschaft auf. Das macht was mit uns. All das hat eine neue Klarheit in die Gedanken gebracht. Das ist bei all dem Geschwurbel dieser Zeit so wichtig. Etwas passiert und das wird nicht akzeptiert. Die Zeit der Worte ist vorbei. Jetzt wird gehandelt.
Wir handeln jetzt auch. Und beenden das Gespräch an dieser Stelle.
Okay.
Wir bleiben noch eine Weile im Soldiner Eck. Schill und Dembowski schauen sich die DAZN-Übertragung aus Paris an. Nichts passiert. Manchmal sehen wir einen Spieler im Tunnel und manchmal erfahren wir etwas über die unsichere Zukunft Thilo Kehrers. Das Schulle fließt. Der Ermittler kann nicht mehr aufhören. Er trinkt sich in einen Rausch. Irgendwann, es ist bereits weit nach Mitternacht, verfrachtet Schill ihn in eine Schubkarre. Dembowski greift sich zwei Schulle.
Schill öffnet die Tür, die kalte Dezember-Luft weckt die Lebensgeister des Trunkenbolds. Mit in die Luft gereckten Schulle-Flaschen, in der Schubkarre sitzend grölt er: „Aber eins, aber eins, das bleibt besteh’n: Borussia Dortmund wird nie untergeh’n.“ Aus Richtung Prinzenallee kommt Dörte entlanggelaufen. Sie lacht und schließt ihn in ihre Arme.
für oppa dembowski (1927-2020)