Halbzeit in der Alten Försterei. Dietfried Dembowski verließ seinen Platz. Er hatte am Eingang ein paar Schulle deponiert. Ein kurzer Schluck gegen die Kälte der Köpenicker Nacht. Union führte gegen die Bayern. Die Fans sangen aus weiter Ferne. Seine Hände zitterten. Der Ermittler trat hinter die Waldseite und blickte auf ein Menschenmeer!
Klar, Köpenick war immer besonders, aber hier standen tausende Personen rum. In Zweiergruppen mit Masken und Trompeten.
Dabei, dachte er, haben wir doch immer noch Pandemie. Lockdown, Bewegungen runterfahren. Niemand durfte mehr vor die Tür. Und vor allen Dingen durfte ihm niemand sein Schulle klauen. Der BVB hatte verloren. Er brauchte das jetzt. Aber da war nichts. Da waren nur Menschen und ein Berliner Pilsener.
„Entschuldigen Sie! Haben Sie vielleicht mein Schulle“, fragte er. Ein langhaariger Ostberliner trat auf ihn zu. Er drohte ihm mit der Faust. Nur ein Stück Zaun trennte sie.
„Das hier ist Berliner Land“, sagte der Mann. „Schulle? Was bist Du für einer? Und niemals vergessen! Eisern!“
Dembowski trat sichtlich irritiert ein paar Schritte zurück. Er wollte doch nur sein Schulle und jetzt das hier. Rund 40 Leute kletterten nun auf den Zaun. Hinter ihre Masken versteckten sie die hässliche Fratze des Erfolgs. Wieder brüllten sie: „Und niemals vergessen! Eisern!“
Das war die Stelle, an der Ermittler entweder „Union“ schreien oder weglaufen konnte. Er drehte sich um und lief direkt in einen schimpfenden, alten Mann. „Spielt Fußball! Das ist doch Wahnsinn. Spielt endlich einfach Fußball“, grummelte er durch seine OP-Maske. „Außen, außen!“
„Meinen Sie die da draußen?“
„Nein. Der Fonzy muss mehr meep meep machen. Vestehen Sie denn nicht? Und dann diese Fans! Gerechte Verteilung hier, gerechte Verteilung da. Wir bieten den absolutes Top-Entertainment und die halten sich mit Kleinigkeiten auf.“
Dembowski verstand den alten Mann nicht. Zeit, diesen Ort zu verlassen. Ein Feuerwerk leuchtete ihm den Weg, aus dem Stadion hörte der Ermittler das krachende Geräusch aufeinanderschlagenden Köpfe. Eilige rannte er nun durch den Wald. Deutlich vernahm er den Geruch trunkener Fußballfans. Sie waren ihm auf den Fersen. Es wurde eng für unseren Helden.
Er rannte und rannte, in der Försterei jubelten die Bayern und der alte Mann brüllte weiter. „Spielt Fußball! Das ist doch Wahnsinn!“ Die Stimme verfolgte ihn hoch auf die Bahntrasse und rein in die S-Bahn. Irgendwer drückte ihm ein Berliner in die Hand. Er blickte in den Wagen. Überall saßen Menschen. Manche zusammengesackt, wahrscheinlich tot, und andere mit runterhängenden Masken, Schnapsflaschen und Tüten voller Burger und Pommes.
Mit großen Pranken schaufelten sie sich die Pommes in den Mund und husteten sie Sekunden später wieder in die Luft. Die mit groben Pommesstücken angereicherten Aerosole färbten sich blutrot. Sie schwebten drohend durch die Luft, klatschten gegen die Scheiben der Bahn. Dembowski duckte sich unter ihnen durch, doch es war längst zu spät. „Spielt endlich Fußball!“, brüllte ihn ein aus dem Schlaf gerissener Obdachloser an, der auf seinem Einkaufswagen liegend durch den Wagen rollte.
Am hinteren Ende konnte Dembowski zwischen dem Rot der Pommesaerosole Hauke Schill ausmachen, dessen Lippen ein „Glühwein, Glühwein“ formten und der aus einem riesigen Schullefass heißen Wein servierte. Miriam Wu stemmte zwei Tassen in die Luft. Ein Stück weiter saß Justin Hagenberg-Scholz in einer kleinen, mit allerhand technischem Gerät vollgestopften Kabine. Die Bildschirme flackerten. Hagenberg-Scholz legte ein Röhrchen nach und die Aerosole im Wagen färbten sich grün.
Am Hauptbahnhof öffnete sich die Tür endlich. Der Ermittler stürzte aus dem Nahverkehrszug und eilte zum ICE in Richtung Wolfsburg. Die Hauptstadt hatte ihn erledigt. Zeit für den Bunker und Zeit für ein kurzes DID Interview. Wir erreichen Wolfsburg auf Gleis 1. Die Sicht beträgt 10 Meter.
Herr Dembowski. Der BVB hat verloren.
Und Sven Mislintat gewonnen! Die Rache des Vertriebenen. Der wurde doch als Gescheiteter verkauft. Endstation Stuttgart. Von da kannste maximal noch den Reschkegang nach Gelsenkirchen antreten, normalerweise. Aber was ist schon normal in dieser Welt?
Der Dortmunder Trainer vielleicht?
Lucien Favre hatte bereits im Vorfeld der Partie vor dieser schwierigen Aufgabe gewarnt. Ihn trifft keine Schuld an der Niederlage. Versagt haben die Protagonisten auf dem Platz. Schauen Sie doch nur auf Marco Reus! Der simuliert Fußball mittlerweile wie Toni Kroos in der Nationalmannschaft. Auf dem Platz nicht existent, in den Interviews mit klarster Kante gegen alles und jeden.
Der BVB hat sechs der neun Bundesliga-Geisterspiele im Westfalenstadion verloren. Wie kann so etwas passieren?
Woher haben Sie diese Statistik?
Finden Sie alles in den Daten.
Okay. Wenn das so ist, müssen wir das mal tiefenanalysieren. Aus dem Tempel wird hier also ein Sarg. Hier beerdigt der BVB seine Champions-League-Träume. Es wird jetzt verdammt eng für den BVB. Die Bayern nehmen sich gerade ebenfalls eine Auszeit, sammeln aber ein paar Punkte. Leipzig hat sich oben eingenistet. Leverkusen spielt eine überragende Saison und über Wolfsburg müssen wir nicht reden. Sie sind das Team der Stunde.
Die finanziellen Verluste der Borussia sind bereits jetzt unvorstellbar hoch. Was könnte das Verpassen der Champions League für den einst stolzen Klub bedeuten?
Das wäre fatal! Die Marktwerte der Spieler sind bereits jetzt komplett eingebrochen. Nach unserem letzten Update muss Manchester United für Jadon Sancho zum Beispiel nur noch ein Angebot in Höhe von €55 Millionen vorbereiten. Das können die stemmen. Verpasst der BVB die Königsklasse, gehen noch einmal €10 Millionen runter. Das wird ganz eng. Von Erling Haaland…
…der in Qatar seine Reha absolviert…
…müssen wir erst gar nicht reden. Mino Raiola wird ihn einfach zu einem neuen Verein bringen. Der BVB hat den Machtkampf gegen Raiola in dem Moment verloren, in dem Haaland den Flieger in Richtung Doha bestiegen hat. Jetzt ist alles egal. Und Raiola hat bereits durchklingen lassen, dass sein Schützling mal die Champions League gewinnen will. Das wird ihm beim BVB nicht gelingen.
Gio Reyna will bester Spieler der Welt werden, Moukoko auch.
Während der BVB und die Spieler immer wieder Wetten auf die Zukunft abschließen, vergessen sie die Gegenwart. Das ist Schalke in mehr Talent. Und kaum noch zu ertragen. Dazu diese Ohnmacht der Verantwortlichen, die jedes Handeln verweigern, um bloß keinen Fehler zu machen. Im Sommer soll es dann ein neuer Trainer sein.
Was bedeutet das konkret?
Wer nur an die Zukunft denkt und die Gegenwart derart vernachlässigt, könnte in der deutschen Pandemiepolitik eine tragende Rolle spielen. Und das ist kein Lob von mir! Der BVB muss jetzt handeln und sich von Favre trennen, sonst gibt es dank der Gegenwart bald keine Zukunft mehr. Das sehen wir in Gelsenkirchen.
Stichwort Pandemiepolitik: Die Liga spielt weiter, trotz Lockdown!
Und wo ist das Problem?
Die Liga muss Vorbild sein!
Und sich selbst richten? Sie haben Sie wirklich nicht mehr alle. Die Liga ist großes Kino. Sie hält dieses Land zusammen. Waren Sie in letzter Zeit mal in Berlin?
Ja!
Dann sollten wir nicht mehr weiterreden.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dembowski!
Dafür nicht.