Im Soldiner Eck feiert man seit 40 Jahren eine Dauerparty. Ermittler Dietfried Dembowski gehört zu den Gästen der ersten Stunde. Der beliebte Nord-Berliner Szenetreff ist sein Wohnzimmer. Hier kann er die Jukebox drücken, ohne mühsam durch die Sammlung zu blättern.
Es sind gute Zeiten im Soldiner Eck. Draußen vor der Tür mag die Welt jeden Tag ein Stück mehr zerbrechen, doch hier herrscht Frieden. Hier spricht Deutschland und findet immer eine Lösung. Hier braucht es keine Uhren, hier gibt es keine Klassen. Hier geht es nur um ein gutes Schulle, einen guten Song, eine gute Zeit.
Für Justin Hagenberg-Scholz geht es immer um mehr. Wir sehen ihn hinter drei Monitoren versunken. Er lächelt das Lächeln eines Besiegten. Prophezeite er noch vor einiger Zeit eine 10-jährige Blütephase der Königsblauen aus Gelsenkirchen, widerlegen ihn nun all seine Modelle. Der FC Schalke 04 steht vor einer der größten Krisen der jüngeren Vereinsgeschichte.
Als sich die Liga am achten Spieltag zweiteilte, mussten die sympathischen Ruhrgebietskicker abreißen lassen. Nach der Niederlage droht nicht nur der Abstiegskampf, sondern der vorzeitige Abschied von Domenico Tedesco, der mit seinem hastig zusammengestellten Kader bislang auf ganzer Linie enttäuscht.
Besser läuft es für Miriam Wu. Nach einer kurzen Schwächephase ist die Bundesliga wieder auf dem Weg zur besten Liga der Welt. In Europe läuft es, in Deutschland legen die 18 Erstligamannschaften spektakuläre Spiele in Serie hin. Es gibt mehr gute Geschichten als Platz im Internet. Von der Tabellenspitze grüßen Dortmund, Gladbach und Bremen – die großen Bayern-Rivalen vergangener Jahrzehnte.
Mit Eintracht Frankfurt, mit Augsburg, mit der Hertha aus Berlin machen auch immer wieder Teams aus der zweiten Reihe auf sich aufmerksam. Ganz oben thront der BVB, der nach schweren Jahren endlich wieder in die Spur gefunden hat.
Erst auf Platz 4 folgen die Bayern aus München, die mir ihrer legendären Pressekonferenz am vergangenen Freitag ungewollt den Scheinwerfer der internationalen Medienwelt auf ihre Konkurrenz gelenkt haben. Wer sind diese Vereine und woher kommen die? War die Bundesliga bislang nicht immer nur der FC Bayern?
Dietfried Dembowski sitzt am Tresen. Er nimmt einen Schluck aus seiner geliebten Schulle-Flasche und singt: „Close your eyes, close the door. You don’t have to worry anymore.“
Dieser Aufforderung kommen wir nach. Wir stellen die Fragen, Dembowski antwortet.
Im Soldiner Eck feiert man seit 40 Jahren eine Dauerparty. Es ist die längste Party der Geschichte. Langsam nimmt sie wieder Fahrt auf.
Hallo, Herr Dembowski! Die Länderspielpause ist vorbei. Wie haben Sie die Zeit ohne Bundesliga überstanden?
Hier bei Schill. Freut mich, dass Sie auch mal vorbeischauen. Wir haben die Jukebox überarbeitet. Neneh Cherry rein, KLF rein, ein paar Klassiker von Dylan. Hören wir ja gerade. Herrlich, oder? So oft gecovert, aber Dylans erste Version bleibt unerreicht.
Nicht nur Dylan lädt zum Träumen mit Aussicht auf mehr ein, sondern auch die Bundesliga. Stehen wir vor der besten Saison der Geschichte?
Übertreibung ist Ihr Handwerk, das macht es natürlich nicht richtiger. Fakt ist: Bislang sind 3,07 Tore pro Spiel gefallen. Jedes Spiel erzählt eine eigene Geschichte. Da trifft Luka Jovic 5x gegen Düsseldorf, da beendet Jonas Hofmann seinen Torfluch ausgerechnet gegen seine Mainzer und da brilliert Werder Bremen auf allerhöchstem Niveau. Sie haben die Effizienz einer Spitzenmannschaft, einen guten Kader, junge Talente, erfahrene Stützen und natürlich auch die richtige Haltung.
An Haltung, sie sprechen es an, hat es der Liga lange Zeit gefehlt.
Dann kam der verrückte Fischer aus Frankfurt. Und alles hat sich geändert. Erst war da Fischer, dann Babelsberg und dann zahlreiche andere Vereine. Bis hin zum VfL Wolfsburg, dessen Geschäftsführer Jörg Schmadtke sich im Vereinsmagazin klar positioniert. Die AfD sei für ihn nicht wählbar, sagte er da. Ein kleiner Schritt in einer Zeit vieler kleiner Schritte. Da kann noch mehr kommen, aber der Weg ist erkennbar und das macht Mut. Auch in der zweiten Liga hat Dynamo Dresden erneut ein klares Signal an seine Fans gesendet.
Das sollte demokratischer Konsens sein.
Die Wahlen sagen etwas anderes. Und wenn Ihre Aussage natürlich korrekt ist, so bleibt es doch bemerkenswert. Gerade nach diesem Sommer.
Sie spielen auf Mesut Özil an?
In erster Linie auf das, was dann kam. Auf die unsäglichen Kommentare einiger Persönlichkeiten.
Neben zahlreichen Experten aus der Versenkung machten da auch die Bayern auf sich aufmerksam. Sie strichen Özil aus der Liste erfolgreicher deutscher Fußballnationalspieler. Uli Hoeneß hat seine Aussage nun korrigiert. Er hätte nicht Dreck, sondern Mist sagen sollen, erklärte er am vergangenen Freitag auf einer historischen Pressekonferenz.
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das Thema ansprechen. Die Reaktionen sprechen für sich. Hat sich jeder zu geäußert, fand das nicht so gut. Aber es geht natürlich in erster Linie auch hier um eine Fortführung der Özil-Kritik.
Das müssen Sie erklären!
Wenn wir den Kern der PK freilegen, ging es darum, die Spieler zu schützen. Nach der WM diente Özil als Schutzschild. Er sollte vom Versagen der Bayern-Stars ablenken. Dieser Schutzschild ist nicht mehr. Nicht einmal in der Nationalmannschaft. Wenn also Özil nicht mehr schuld ist, muss es jemand anders sein. Dann eben die Medien. Die ohne Anstand und Respekt auf den Verein eindreschen. Darum ging es. Gelungen ist es natürlich nicht.
Wolfsburg wurde geschlagen, einige Spieler bedankten sich persönlich bei Karl-Heinz Rummenigge.
Der mit seinen, wie ich vernahm, besonnenen Worte am Münchener Airport die PK nur noch veredelte. Um eine Wagenburg zu kreieren, war ihm nichts zu peinlich. Die Strategie der Bayern ist leicht durchschaubar, in jedem Handbuch über den neuen Populismus nachzulesen. Müssen wir jetzt auch nicht größer machen als es war.
Sie wirken gelassen, Herr Dembowski.
Ich habe doch Augen im Kopf. Ich habe Pacos Lupfer gesehen. Mehr muss man nicht wissen. Beim BVB läuft es, bei vielen anderen Vereinen läuft es. Es wird für die Bayern auf dem Platz kein Spaziergang mehr. Jedes Bayern-Schlachtfeld außerhalb macht ein spannende Bundesliga-Saison wahrscheinlicher. Und wenn es auf eine spannende Saison hinauslaufen sollte, werden am Ende nicht die Bayern vorne einlaufen, sondern sehr wahrscheinlich die Dortmunder Borussen, die von Rückschlägen ausgehen, die hungrig sind und die eine wirklich okaye Mannschaft auf den Platz bringen. Die Bayern würden sich im Falle einer spannenden Saison selbst zerlegen. Sie können nicht kämpfen, auch wenn Kovac das erst am Samstag behauptete. Da ging es jedoch gegen planlose, desolate Wolfsburger.
Der BVB wird nicht nur gewinnen.
Hören Sie mir überhaupt zu? Das sagte ich doch. Aber mit dem Sieg in Stuttgart haben sie eine wichtige Hürde genommen. Niemand wird in den nächsten Wochen auf die Idee kommen, Vergleiche zur letzten Saison zu ziehen. Das war wichtig. Wie das 4:0 dann in eigentlich nur 25 Minuten herausgespielt wurde, sollte dem Rest der Liga Angst machen.
Jetzt aber geht es in der Champions League gegen Atletico.
Da muss ein Sieg her. Meine Rechnung vor Beginn der Gruppenphase war klar: Neun Punkte aus den ersten 3 Spielen, um hintenraus nicht unter Druck zu geraten. Das kann eben auch für den weiteren Ligaverlauf wichtig sein. Stellen Sie sich mal vor: Mit einem Sieg könnte man sich im Rückspiel und vor dem wichtigen Bayern-Spiel ein wenig zurücknehmen, müsste nicht voll auf Sieg spielen. Das hätte was. Im Kick gegen Brügge könnte man dann immer noch den Einzug in die KO-Runde festmachen. Atleticos Abwehr muss einmal überwunden werden, und wenn Pulisic in der letzten Minute einen reinstolpert.
Themenwechsel: Für Schalke 04 sieht es nicht so gut aus.
Schauen Sie auf Justin Hagenberg-Scholz. Er ist verzweifelt. So einen Einbruch konnte man erwarten. Sie haben über ihrem Limit gespielt, jetzt pendelt sich das nach unten ein. Heidels Transferpolitik bleibt auf hohem Niveau fehlerhaft. Das freut mich.
Weil Sie Schalke nicht mögen?
Nein. Weil ich noch die unzähligen Reaktionen in Erinnerung haben. Da wurde jeder Heidel-Transfer vor der Saison wie die lang ersehnte Meisterschaft gefeiert. Ein echtes Problem unserer Zeit. Das sehen wir auch in Stuttgart. Nur weil man sich theoretisch interessante Spieler in den Kader holt, heißt das eben nicht, dass sie wirklich interessant sind. Die meisten Experten lassen sich zu sehr von Namen blenden, das mache ich nicht.
Deswegen gelten sie als der Fußball-Fachmann schlechthin, Herr Dembowski.
Das stimmt.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Dafür nicht. Wollen Sie auch ein Schulle? Schill, noch ne Rutsche!
Sehr gerne
Vor der Tür ziehen wieder einmal dunkle Wolken auf. Ein Windstoß entlaubt die Platane am Ende der Straße. Regen setzt ein. Hier im Soldiner Eck steht die Zeit still. In unruhigen Zeiten ist es das Zentrum der Gelassenheit.