Karl-Marx, Ecke Rosa-Luxemburg. 13. Stock. Hier kann Dembowski die Welt fühlen. Sein Bett am Fenster. Der Plattenspieler. Die Nadel. Die Bewegungen der Scheibe. Gleichförmig. Ein Tempo. 33 Umdrehungen. Manchmal schlägt irgendwo eine Tür. Manchmal tritt jemand dagegen. Niemand stört ihn, niemand kennt ihn.

Wie niemand je die Sonne kennt. Dort hinter dem Fenster, in diesem unendlichen Landstrich hinter der Friedensbrücke, geht sie im Sommer auf. Doch nicht in diesen Dezember-Tagen. Alles steht still. Keine Wolken. Eine Masse. Der Grauschleier des Winters. Dort, wo hinter dem Horizont die Tage in Nacht übergehen, mischt sich das Grau mit dem satten Schwarz einer Unwetterfront.

Von hier kann er die Welt sehen, so wie sie ist. Gegen Tristesse gibt es keine Farben. Von Frankfurt/Oder bis Irkutsk. 5.650 Kilometer. Unendlich. Farblos. Ausgezerrt. Erschöpft. Wieder einmal ein dunkles Jahr. Es gibt keine hellen Jahre mehr.

Grau. Kalt. Monoton, kalt, vernebelt. Wie seine Gedanken. Den 13. Stock verlässt er selten. Er hat hier alles. Ein paar Platten, die Welt hinterm Fenster. Isolation. Trist. Kraftlos. Der Fernseher flackert still. May vor einem gigantischen Weihnachtsbaum. Drohnen über Gatwick. Bilder aus dem alten Pott. Proteste in Budapest. Der Friedensbringer Trump. Sein Smartphone pusht Betrugsmeldungen.  Abrechnungen. Er denkt an John und was ist, wenn es ihn nicht gibt. Jeder Mensch erzählt seine Geschichte.

Sein Fernglas fokussiert auf einen Streuner auf der anderen Seite. Er sitzt nur da. Ein anderes Land, ein anderes Leben. Die Brüche ziehen ihn an. Frankfurt/Oder. Bosse hat darüber ein Lied geschrieben. Die AIMS auch. Drei Tage frei. Im Frosch legt DJ Storchi auf. 90er und Party Musik. Shot’s 1€. Die Sache mit dem Apostroph würden sie nie lernen. Wieso auch?

Später, am Freitag, die Krachnacht. Bloodline Production Presents. 60 Minuten reine Spielzeit. Das erste Konzert nach 3 Jahren. Danach Trash Pop Rock 90er Klatsche. Weihnachten. Wieder einmal den Fluss hoch. Heimat. Das große Wort. Dembowski hat sie nicht. Immer erträumt. Gesucht. Bald gefunden. Bald abgestoßen.

Später Dezember 2018. Im California Casino klicken die Automaten. Vor der alten Universität streiten zwei Trinker. Einer schleppt einen Tannenbaum und einer kann nicht mehr bremsen. Blaues Licht durchdringt die Nacht. Der Ermittler schaut in die Vergangenheit. Sieht die Preise, die er gewann. Erinnert sich der Menschen, die er liebte. Die blieben: während er verschwand.

Ermittler Heute!-Redakteurin Genevieve Heistek erreicht Dietfried Dembowski am 21.12.2018, dem kürzesten Tag des Jahres. Ein Rauschen im Hintergrund. Kein Vertrauen. Kein Vertrauen. Die Platte springt zurück zum Start. Und nichts passiert. In Frankfurt/Oder. Karl-Marx, Ecke Rose-Luxemburg. Der Ermittler öffnet ein Perla.

 

Herr Dembowski! Wir dürfen Ihnen gratulieren. Sie sind der Ermittler des Jahres 2018.

Das überrascht mich nicht, Frau Heistek! Vielen Dank für Auszeichnung. Es freut mich wirklich. Sie erkennen ehrliche, seriöse Arbeit an. Ich muss gestehen: Gerechnet habe ich damit in diesem Jahr nicht. Juan Moreno hat einen starken Endspurt hingelegt.

Er ist zu spät gestartet, Herr Dembowski. Die Wahl war bereits gelaufen.

Dann gehört der Preis auch ihm. Er hat ermittelt, was ist. Das hat mich begeistert. Dass es so ist, hat mich nicht überrascht.

Vielleicht kommen wir später noch einmal darauf zu sprechen. Bleiben wir bei Ihnen, Herr Dembowski. Uns hat in diesem Jahr Ihre Leichtigkeit begeistert. Noch 2017 wirkten Sie paralysiert.

Ich stand in einem dunklen Raum. Es gab keine Lichtschalter. Wenn man aber von ewiger Dunkelheit umgeben ist, kann man keine klaren Gedanken fassen. Ich habe mich von allem Ballast befreit.

Sie haben lange schon nichts mehr von Dörte, von Koi berichtet. Wieso?

Das ist eine Privatangelegenheit. Wir sind weiter Freunde. Koi hat es verstanden.

 

Vor vier Jahren gewann Dembowski erstmals die begehrte Trophäe. Ermittler des Jahres 2014. Ein Paukenschlag! 

Damals besuchten wir Dietfried Dembowski auf seiner Lamafarm am Ende eines Arms der Alten Oder. Dort gab es keine Menschen. Nur im Oderkahn. Die meiste Zeit waren sie allein. Jährlich luden sie zum Sommerfest ein. Der Ermittler führte über das Anwesen. Sein Karpfen Koi kämpfte mit den Reihern. Dembowski sagte: „Wenn die große Wahrheit über der echten Wahrheit steht, braucht es keine Lügen mehr, um die Realität abzubilden.“ Das war tief, das war sperrig. Es brachte ihm Anerkennung. So sprach jemand, der keine Lupe anlegen musste. So sprach jemand, der die großen Zusammenhänge mit wenigen Worten erklären konnte.

Es war ein kometenhafter Aufstieg. Bald schon verglühte Dembowski im Kneipenlicht. Heute sprechen wir mit einem spürbar erholten Ermittler. Er hat Ballast abgeschmissen. Und fliegt wieder in Richtung Sonne.

 

Wollen Sie darüber reden, Herr Dembowski?

Nein. Das sagte ich bereits.

Blicken wir also auf die aktuellen Themen. Justin Hagenberg-Scholz steckt in der Klemme. Die Polizei Mannheim ermittelt gegen den Datenguru wegen einer bedeutenden Ordnungswidrigkeit. Wie kam es dazu?

JHS wollte von den besten, den modernsten, den innovativsten Denkern unserer Generation lernen. Die sitzen eingekeilt zwischen den sanften Hügeln des Kraichgaus an einer Ortsausfahrt in Zuzenhausen. Dort entscheidet SAP über die Zukunft des deutschen Fußballs.

Hagenberg-Scholz hat eine Drohne über das Trainingsgelände der TSG Hoffenheim fliegen lassen. Hatte er dazu eine Genehmigung?

Er hat sich von den lokalen Behörden eine Aufstiegserlaubnis eingeholt. Er ist Besitzer eines Drohnenführerscheins. Ich verstehe die Aufregung nicht. JHS wollte schauen, wie Julian Nagelsmann im Training auf die Ergebniskrise reagiert. Nagelsmann ist eine große Nachwuchshoffnung des Weltfußballs. Hier ging es einzig und allein um die Frage, was ihn in der alltäglichen Arbeit von seinem Kollegen Domenico Tedesco unterscheidet. Ein wichtiger Auftrag.

Die Polizei ermittelt gegen einen unbekannten Betroffenen und sein Auto. Wieso stellt sich JHS nicht und löst die Situation auf?

Weil wir diesen Stoff brauchen. Die Empörung über die Wahl der Mittel. Der Verweis auf die allgemeine Sicherheit. Der Kampf um die Deutungshoheit. Bremen gegen Hoffenheim. Tradition gegen Emporkömmling. Der Fußball erzählt Geschichten. Wenn JHS dazu beitragen kann, dann schweigen wir.

Der Bremer Scout könnte seinen Job verlieren.

Das glaube ich nicht. Auch wenn es so gewesen wäre: Wo ist der Skandal. Die Geschichte der Fußballspione ist eine lange und abwechslungsreiche. Hoffenheims Antwort in dieser Saison ist immer die Polizei. Es ist eine schwache Antwort. Aber es ist eine öffentliche Antwort. Der Verein, der sich auf allen Ebenen verteidigen muss. JHS hat dies wieder einmal offengelegt. Auch diese Ermittlungen mit ungeplantem Ausgang machen uns so stark.

Wiederholt mussten auch Sie sich den Attacken der Konkurrenz erwehren. Ihnen wurde eine bedenkliche Nähe zum Boulevard vorgeworfen. Eine manipulierende Art. Auch intern schwiegen die Kritiker nicht.

Ich habe die Dunkelheit gesehen. Ich habe gesehen, wie es ist, wenn man nichts mehr hat. Wenn es keine Türen mehr gibt, die man eintreten könnte. Wenn man in sich gefangen ist. Und Sie kommen mir mit Kritikern? Die interessieren mich nicht.

Sie sind bei Pit Gottschalk aufgetreten, Herr Dembowski.

Wieso nicht? Ich mag Pit und seinen Newsletter. Auch so ein Getriebener, ein Besessener. Einer, der durch seine Kommentare atmet. Eine Menschmarke. Wir sind die Enden der Parabel. Wir suchen unsere Wahrheiten.

Dieser Tage ist die Wahrheit in Verruf geraten. Der Fall Relotius…

Herrje. Was soll ich dazu sagen, was nicht bereits gesagt wurde. Nur so viel: Wenn Claas Relotius das Monster ist, zu dem er gemacht wird, dann wurde er nicht aus sich heraus zu diesem Monster. Dann wurde er zu diesem Monster, weil man dieses Monster brauchte. Um zu erklären, was sein soll. Das sehen wir auf anderen Ebenen. Der schmierigste Absatz, den ich in diesem Jahr las stammt aus der ersten Welle der Football-Leaks-Enthüllungen. John sitzt in einem kahlen Raum, das Wasser tropft von der Decke, die Fenster sind undicht. Von hier kämpft der Held gegen die korrupten Fußballfunktionäre in ihren Goldpalästen. Hier schwingt sich John zum Retter des alten Fußballs auf. Was macht so ein Absatz, in dem es nur Schwarz und Weiß gibt, denn mit dem Leser?

Relotius hat die Wahrheit mindestens gebeugt. Das ist bewiesen. Ihre Anschuldigungen gegen Buschmann laufen ins Leere.

Er wird kein Einzelfall sein. Belassen wir es doch dabei.

Okay. Blicken wir schnell auf das aktuelle Fußballgeschehen. Borussia Dortmund verliert.

Wie ich darauf gewartet. Über Sieger kann ich nicht nachdenken. Sieger siegen und das ist es dann. Sieger werden mit der Zeit unsympathisch. Im richtigen Scheitern liegt die Größe, im falschen Scheitern sammeln sich die Geschichten. Darüber wollen wir lesen.

Woran ist der BVB in Düsseldorf gescheitert?

An den Außenpositionen. Captain America hat sich verabschiedet. Er ist bereits in der Welthauptstadt London. Das ist okay. Damit muss man immer rechnen. Es ist nicht so, dass der BVB ihn unbedingt halten will. Er ist eben auch Betriebskapital. Gegen Düsseldorf haben die Dortmunder dann ihr Betriebskapital nicht auf den Rasen bringen können. Bruun Larsen und Schmelzer, der eben immer Schmelzer bleiben wird. Auf der anderen Seite P+P. Das hat nicht geklappt. Sogar Witsel hat sich verunsichern lassen. Eine Niederlage ist okay.

Bayern hat Blut geleckt.

Schauen Sie sich diese Truppe doch einmal. Die sind ja nicht schlagartig besser geworden. Haben ein wenig mehr Spielglück. Aber da brodelt es weiter. Ganz kurze Lunte. Wird noch spannend. Gerade da Brazzo jetzt einen Lauf hat. Der ist ja innerhalb weniger Tage von einer unbedeutenden Randfigur zum wichtigsten Player des Vereins geworden. Brazzo rennt in seinen Untergang. Damit auch diese Position frei wird.

Gladbach begeistert.

Die haben 2-0 gegen Nürnberg gewonnen. Darüber muss man nicht schreiben, nicht reden. Ein Pflichtsieg nach Eigentlich-Pleite in Hoffenheim. Der BVB wird heute gewinnen. Und ich werde wieder schweigen.

Herr Dembowski. Wir würden mit Ihnen gerne noch über…

Wissen Sie, was ich gerade sehe?

Nein.

Im Osten geht die Sonne auf. Es ist spät geworden. Ich packe jetzt meine Sachen. Zurück zu Schill. 3 Tage frei in Frankfurt/Oder.

Wir wünschen Ihnen schon jetzt ein Frohes Fest, Herr Dembowski!

Did werd ich haben. Ihnen aber auch, Frau Heistek! Beehren Sie uns bald wieder.

 

Dembowski schaut aus dem Fenster. Die Sonne bricht durch das Grau. Hinterm Horizont geht es weiter, immer weiter. Das ist sein Antrieb. Ein neuer Tag, ein neuer Fall, ein neues Bier. Er öffnet die Tür. Jetzt kann er das Soldiner Eck riechen. Justin Hagenberg-Scholz erwartet ihn bereits. Er trinkt heute auch Bier. Sie sind zwei Detektive. Sie sind die Ermittler des Jahres 2018.