Die Enden lassen sich nie vorhersehen. Gerade noch saß ich an der Theke, schaute die hundertste Wiederholung des Paderborn-Spiels und ergötzte mich am Gedanken an die ewige Gegenwart und jetzt ist alles erledigt.

Der Anruf traf mich also vollkommen unvorbereitet. „Dembo, Du musst ins Westend kommen! Hier passiert etwas!“ Was passierte, das stand später in allen Gazetten.

Die Ereignisse hatten sich überschlagen, wie man so sagt. Klar: Bei Hertha gärte es bereits seit längerer Zeit, ja seit dem Moment, an dem Lars Windhorst seine Vision eines „Big City Clubs“ in die Öffentlichkeit getragen hatte. Aber natürlich war die Hoffnung, dass es es sich um ein Flackern handeln würde, dass Windhorst bald weiterziehen könnte.

Das aber war nicht sein Plan. Er steckte noch mehr Geld in den Verein, heuerte Jürgen Klinsmann als seinen sportlichen Berater an. Der sollte sich nun um sein Investment kümmern und den schlafenden Riesen in eine goldene Zukunft führen. Sportlich aber ging es bergab. Mit Dardai hatte der Klub seine Seele abgestoßen und erst Covic ins Verderben laufen lassen, um sich dann ganz Windhorsts Millionenträumen zu unterwerfen.

Nach den Bankrotterklärungen des Novembers übernahm Windhorst dann komplett die Kontrolle. Vom Tagesspiegel-Herausgeber zum Frühstücksdirektor degradiert, unternahm Michael Preetz überhaupt keine Bemühungen mehr, sich gegen die Zeitenwende zu stemmen. Auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz erklärte er noch einmal die lange Verbindung Klinsmanns mit Hertha und sprach von einem Miteinander. Der neue Trainer sprach von Lars und seiner Staff. Er redete über Investments und Commitments. Natürlich: Er erwähnte das generationsübergreifende Bekenntnis der Familie, die ihre Wurzeln in Hohenwutzen hatte, unweit der alten Lama-Farm. Mich jedoch schauderte es.

Hertha hatte sich der Zukunft verpflichtet, ich aber hing in der Gegenwartsschleife fest. Mit einem Schlag war mir ein weiterer Teil geraubt worden. Während sich die Berliner aufstellten, genügte es mir, an der Theke meinen vagen Erinnerungen an die großen Tage im leeren Olympiastadion nachzuhängen. Begonnen hatte für mich alles mit einem 1:0 Sieg gegen Hoffenheim. Weit unter 40.000 Zuschauer blickten in diesen November-Tagen 2015 nach den Pariser Attentaten auf den schneebedeckten Platz.

Mit Dardai entwickelte sich Hertha zur letzten Bastion des sagenumwobenen „alten Fußballs“, von dem alle träumten, den aber niemand jemals öffentlich zurückhaben wollte. Bei all den Protesten gegen den modernen Fußball war es ja nie gegen das neue Stadionerlebnis gegangen. Die Zuschauer wollten nun nahe am Spielfeld sitzen, die Spieler fühlen, sie mit ihren Emotionen erdrücken und in der Halbzeit schnell mit Bier und Bratwurst versorgt worden und auf den Toiletten ihre Geschäfte erledigen .

Unter Dardais Regime aber entwickelte der ergebnisorientierte Abnutzungskampf in der kalten Betonschüssel Olympiastadion seine ganz eigene Magie. Die kurze Europa-League-Saison sah ich im Unterrang der Ostkurve. Es war kalt, der Fußball war unansehnlich und der Rest des Stadions leer. Hier fühlte ich mich zuhause. Auch wenn das Stadion mal ausverkauft war, dann war es etwas besonderes, dann war es wirklich ein Festtag. Aber nicht jedes Spiel war ein Festtag. Dazwischen lagen lange, dunkle Tage voller harter Arbeit. Ich hatte meinen alten Fußball gefunden und ich hoffte, dass es sich nie, nie ändern würde.

Die Bemühungen des Vereins in die Stadt zu strahlen, die großspurigen Marketingaktionen der Lead-Agentur Jung von Matt/SPORTS und des ehemaligen Twitter-Manns Paul Keuter fand ich mal überzogen und mal sympathisch. Als das Team auf die Knie ging und sich mit Kaepernick solidarisierte, sah ich die gute Seite und verachtete die, die den Verein mit Häme überzogen. Ich war nun regelmäßiger Gast im Olympiastadion und sah die Bemühungen des Vereins sich neu zu justieren. Kinder und Jugendliche durften die Spiele nun umsonst besuchen, in jeder Länderspielpause ging es auf eine Sportanlage in der Hauptstadt und an der Seitenlinie heckte Dardai das nächste Unentschieden aus.

Hertha gelang, ohne das sie es wollten, der Ausbruch aus der Geiselhaft des neuen Konformismus der Fußballmoderne. Sie spielten in einer alten Schüssel, die Fans in der Ostkurve ließen sich nicht vom Verein kontrollieren. Die Hertha setzte nicht auf einen dahergelaufenen Taktikfuchs, sondern mit Dardai auf ein Eigengewächs, dessen Ungarnhaftigkeit mich hin und wieder verstörte. Doch dann dachte ich an Gulasch und Rotwein und Pals kleinen Bauch, wenn er nach einem langen Sommer wieder zurück in die Hauptstadt kehrte.

Im Soldiner Eck drehten sich die Gespräche nun immer häufiger um Hertha und nicht mehr um Borussia, die an ihrer eigenen Großkotzigkeit zugrunde ginge. Natürlich der BVB bedeutete mir immer noch alles, das war in mir drin, aber der Kampf im Mittelmaß der Liga faszinierte mich. Ich war nicht Fußballfan geworden, um Erfolge zu feiern. Vielmehr liebte ich den Teil, der das Leben abbildete. Ich war kein Gewinner, Hertha auch nicht. Inmitten des Verdrängungskampfs in der Hauptstadt blieben sie die Konstante. Dass sie auf Kindl und nicht auf Schulle setzten, das wollte ich ihnen noch einmal verzeihen. Mit Windhorst endete all das. Hertha wollte nun ein RB-Abklatsch sein. „Einmalig“, kommentierte Klinsmann und ernannte Arne Friedrich zum Performance Manager.

Alles, was mir bliebt, war eine letzte Show. Ich rief Frank an. „Du musst ins Soldiner Eck kommen!“ Frank war dabei. Jürgen fing ich nach dem Training ab. Ich erzählte ihm von der Farm, von Hohenwutzen, vom Schiffshebewerk und den Armen der Oder, in denen sich unsere Geschichte traf. Er war dabei. Lars auch. Wir fuhren zu Schill. Schulle-Alarm im Gesundbrunnen. Frank holte seine Klampfe raus. Es ging los.

Jürgen, Lars und Frank schmetterten „Nur Nach Hause!“, sie lagen sich in den Armen. Ich bestellte noch ein Schulle bei Schill. „Was hast Du hier schon wieder für eine Bande angeschleppt?“, fragte er. Aber ich hörte ihn nicht mehr. Ich sah die Windhorst-Bande singen, trank mein Schulle und verließ das Soldiner Eck. Mein Job in Berlin war erledigt. Langsam schwankte ich in den Sonnenuntergang.

Mit meinen Tränen füllte ich die letzte Schulle-Flasche. Die Menschen haben immer Durst, tröste ich mich. Irgendwo da draußen wartete eine neue Eckkneipe auf mich. Mehr konnte ich nicht erwarten.

Aus der Ferne drang Jason Molina zu mir: „I’m not looking for an easy way out. This whole life it’s been about try and try and try and try and try and try to be simple again!“