EVERYONE CHOOSE SIDES

Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie oft er Molinas Let Me Go, Let Me, Let Me Go bereits gehört. Seit Wochen schon hatte er seine Wohnung, die eigentlich nur ein Zimmer auf der anderen Seite des Soldiner Eck Ecks war, schon nicht mehr verlassen. Er bewegte sich zwischen Plattenspieler und Bett, zwischen Tür und Küchentisch.

Das ging nun. Man musste nicht mehr vor die Tür. Schon gar nicht in Berlin. Amazon machte ihm seine Einsamkeit erträglich. Dembowski war nahezu versessen. Manchmal legte er stundelang Waren in seinen Warenkorb. Das erfüllte ihn mit großer Zufriedenheit. Er wusste: Jeder Kauf bei einem anderen Unternehmen, unterstützte China. Direkt oder indirekt. Es lief längst auf den Endkampf dieses Jahrhunderts hinaus: China gegen die United States.

Er wollte auf der richtigen Seite sein. Und die richtige Seite waren für ihn die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht weil sie von Donald J Trump an den Rand eines Abgrundes geführt wurden, sondern weil sie Persönlichkeiten wie Jason Molina hervorgebracht hatten. Chinesische Musiker hatten ihn nie nachhaltig beeindruckt. Er kannte nicht einen.

Typen wie Molina, wie Vic Chesnutt, wie Mark Linkous aber hatten nicht nur jeden Schmerz auf sich genommen, sie waren daran zugrunde gegangen, hatten sich am Ende mehr oder weniger selbst gerichtet. Dembowski bewunderte diese Selbstzerstörung, diesen unabwendbaren, am Ende existenzauslöschenden Weg, den sie beschritten hatten.

Manchmal, wenn er abends aus dem Fenster in die Dunkelheit blickte, wünschte er sich, er könnte jemals so viel Mut aufbringen, dann erinnerte er sich, dass er nichts von Bedeutung erschaffen hatte, und dass sein Mut nur Feigheit sein würde. Molina hatte an den für ihn entscheidenden Lebensorten Zeitkapseln mit verworfenen Songs hinterlassen. Eines Tages würde man diese finden, und irgendwann würde die ganze Welt erkennen, was ohnehin bekannt war: Molina war einer der größten Künstler unserer Zeit.

Dembowski aber konnte keine Zeitkapseln befüllen. Er würde spurlos verschwinden, und hätte nie existiert. Ausgelöscht. Ohne Erinnerung. Er war nie auf diesem Planten gewesen. Und weil dem so war, dachte er sich, könnte er dann auch noch ein paar Tage länger unerkannt unter den Menschen weilen. Wenn er auch nichts von Bedeutung beisteuern konnte, so könnte er, so hofft er, zumindest etwas von Bedeutung zerstören.

Doch gerade fehlte ihm die Kraft dafür.

Und so verbrachte Dembowski seine Tage. Hangelte sich von Fußballübertragung zu Fußballübertragung. Las mit abnehmender Begeisterung und Leidenschaft über die nächste große Krise der Borussia, fügte der öffentlichen Diskussion notwendiges Drama hinzu, berichtete vom bevorstehenden Untergang. Wieder einmal. Auf Kollisionskurs. Das war, das wusste Dembowski, immer richtig. Alles ging vorüber. So konnte man immer und jederzeit das Ende vorhersagen.

Der Ermittler sprach kaum noch. Beantwortete am Telefon mal die Fragen der DID-Reporter, und mal die eines wirren Internetradiomoderators. Er gab den Alkoholiker. Seine Antworten klangen Woche für Woche erschöpfter. Er spielte seine Rolle. Auch als er sah, dass er sie nicht mehr gut spielte. Seine Existenz war eine monotone, den eigenen Geist bedrohende Selbstverleugnung. Dembowski hatte genug von dieser Demontage seines eigenen Denkmals. Früher einmal, dachte er, früher war ich auf dem richtigen Weg. Dann wurde mir alles egal. Ich begann an die Flüchtigkeit der Dinge zu glauben, und ihnen dadurch keine Bedeutung mehr zuzumessen. Das muss ein Ende haben, dachte er, und fiel doch bald zurück in den alten grauen Alltag, der nun sein Leben war.

Hin und wieder blätterte er in alten Ermittler Heute!-Heften, erinnerte sich an seine große Zeit, an DerSamstag! und all die großen Erfolge, die er gefeiert hatte. Besonders gefiel ihm Heisteks Portrait aus glücklichen Lamafarmtagen. Doch die waren längst vorbei. Koi hatte er seit Monaten nicht gesehen, mit Dörte ein paar gelangweilte Nachrichten ausgetauscht. Er hatte sich längst von ihr verabschiedet. Er konnte es sich nur nicht eingestehen.

Manchmal, wenn er tagelang nicht gesprochen hatte, programmierte er ein paar neue Befehle in amazon echo. Je mehr Daten den Amerikaner zur Verfügung standen, umso besser waren sie auf den bevorstehenden Krieg der Kulturen vorbereitet. Dies Gedanke füllte ihn hin und wieder aus.

Und so vergingen die Monate, so begann die Halbserie der Borussia mit der unglaublichen Siegesserie und so ging sie mit der großen Krise weiter. Irgendwann brüllte jemand, wahrscheinlich Watzke, Anschlag und schon schloss sich die Wagenburg um den Verein. Wir gegen die.

Bosz ging, mit Stöger kehrte das Glück zurück, das Jahr trudelte seinem Ende entgegen. Es hatte dem Fußball wieder nur Probleme gebracht. Es waren zu viele, um drüber nachzudenken. Am Ende aber lief es auch hier auf nur einen Kampf hinaus: Wem gehört das Spiel in der Zukunft? Den Verfechter aller Zeiten nicht. Das wusste er.

Schließlich stand er auf. Sah sich in seinem Zimmer um. Die Bilder seiner Vergangenheit hatten nichts an Farbe verloren, denn sie hatte nie eine gehabt. Das mochte er. Schwarz und weiß. Eine Seite und eine andere Seite. Dazwischen nichts. Dunkel und hell. Glück und Unglück. Liebe und Hass. Dazwischen nichts. Keine Zweifel. Nur eine Wahl. Eine Seite. Eine Entscheidung. USA oder China. Und niemals zweifeln.

Der Ermittler wusste, dass er doch noch eine Zukunft hatte. Er würde sich verändern, eine neue Rolle annehmen, und sich in den Abgrund stürzen müssen. Irgendwas würde ihn auffangen, und wenn nicht, dann würde er für immer stürzen. Alles war besser als ewiger Stillstand.

Als er an sein Plattenregal trat, um Molina zu verabschieden, fasste er einen Plan.  Zeit für ein Schulle. Sein erstes nach langer Zeit.

Er zog die Meadowlands aus der Hülle, schaute auf die Spuren, legte sie auf. Setzte sich. Wartete eine Seite ab, war, wie immer, wenn er die Platte hörte, enttäuscht, trank sein Wasser, wie er es seit Monaten getan hatte, zog die Jogginghose aus, seine Ausgehuniform an. Wartete. Auf diesen einen Moment. Und dann öffnete er die Tür. Sprang die Treppen runter.

Die paar Meter rüber zum Soldiner Eck spurtete er. Aus seinem Fenster hörte er jemand rufen.

„I am back, I am back!“

Hauke Schill lachte, als der Ermittler das Soldiner Eck betrat. Dembowski hatte er vermisst. Endlich wieder Umsatz.

„Wo ist Wu?“

„Unterwegs.“

„Ich muss mit ihr sprechen!“

„Das wird passieren. Nur nicht jetzt.“

„Okay. Dann lass uns über unsere Pläne sprechen, Schill! Bist Du auf meiner Seite? Wir müssen handeln.“

Aber Schill hatte nicht auf ihn gewartet. Er hatte keine Zeit. Der Ermittler würde sich gedulden müssen. Gerade kam eine neue Lieferung, und von irgendwelchen Plänen wusste er nichts. Er drückte Dembowski ein paar Zeitungen in die Hand. Der Ermittler würde sich schon melden.


THE CRAFT BEER INCIDENT

Hauke Schill hasste Bernd Zedernholz bereits bevor dieser krachend durch die Tür des Soldiner Ecks polterte, ihm zur Begrüßung jovial auf die Schulter schlug, und ihm danach mit seiner Pranke eine Visitenkarte auf die Theke schleuderte.

„Dir gehört der Laden? Schönes Ding. Aber wir müssen hier ein paar Dingen verändern. Mein Name ist Bernd Zedernholz, ich bringe Dir Craft Beer. Läuft hier Fußball? Vierte Liga im Livestream? Das ist der wahre Shit.“

Benommen von der Begrüßung blickte Schill auf die Visitenkarte.

Bernd Zedernholz // Manager // Echter Fußball + Echtes Bier // Cottbus + worldwide // verteidigt Tradition!

„Echtes Bier ist wie echter Fußball. Dreckig und ehrlich! Vielfältig und bodenständig“, lärmte Zedernholz noch bevor Schill etwas sagen konnte. Er rückte sich seine Brille zurecht, und strich sich fahrig durch den Bart.

„Wer ist das? Was faselt der Typ da? Kann man hier nicht einmal mehr in Ruhe Musik hören“, schrie Dembowski vom anderen Ende der Theke.

Dort hatte er schon länger gesessen, und war hin und wieder zur Jukebox rüber, hatte gerade erst eine Reihe mit den Stone Roses, den Inspiral Carpets und Revolver gedrückt. Er wollte sich erinnern. Jetzt war er genervt.

„Schill, schieb mal ein Schulle rüber.“

Der reagierte nicht. Der Ermittler stand auf.

„Wer ist das? Der ist Dein Problem!“

„Das ist Dietfried. Er gehört zum Inventar. Worum geht es, Herr Zedernholz?“

„Schulle. Schulle. Schulle. Wenn ich das schon höre! Einheitsplörre. Das Ende der Braukunst.“

Zedernholz deutete auf seinen Hoodie, auf dem in großen Lettern „Wurzeln und Kraft!“ stand, und ein alter Lederball zu einem alten Bierfass wurde. Dembowski war noch außer Hörweite. Den Hoodie aber konnte der Ermittler nicht übersehen. Er kam näher. Was war das für ein Vogel?

„Schill, musst Du Dir anschauen. Starke Nummer. Der HSV hat nicht einmal mehr Kohle für einen Blumenstrauß“, warf Dembowski ein, und schob ihm eine Zeitschrift ins Sichtfeld. Der Ermittler musterte Zedernholz. Dieser beugte sich nun auch über den Text.

„Hamburger! Deswegen läuft hier kein Fußball.“

„Was wollten Sie nochmal?“

„Ich bringe Dir Craft Beer, Schill! Zurück zu den Wurzeln. Scheiß auf das Schulle!“

Schill blickte auf Dembowski. Er wusste, was nun passieren würde.

„Dietfried…“

Doch er konnte nichts mehr ausrichten. Zedernholz hielt sich bereits die Nase, sein Hoodie war blutüberströmt, seine Hornbrille lag zersplittert auf der Erde. Die grauen Bartstoppeln färbten sich rot. Schill nahm Anlauf, und sprang auf den Manager, der seine Überraschung überwunden hatte. Der Kneipier drückte ihn nieder, Dembowski legte noch einmal nach.

„Niemand, niemand, niemand, niemand darf so über Schulle reden!“

Dembowski war außer sich. Sie zogen Zedernholz durch die Tür. Draußen peitschte ihnen der Regen ins Gesicht.

Zedernholz sagte: „Justin Hagenberg-Scholz!“

Doch sie hörten ihn nicht. Längst hatten sie ihren Blick in die Ferne gerichtet.

„Sie ist da“, schrie Dembowski.

Miriam Wu kämpfte sich im Friesennerz die Wriezener Straße hoch, ein Schatten folgte ihr, drückte sich bald an der Ecke Biesentaler in einen Hauseingang, schlich dann wieder los.

Zedernholz hatte sich hochgekämpft, schimpfte, kündigte seine baldige Rückkehr an, verschwand.

Aus dem Soldiner Eck erklang jetzt Phil Collins.

“You know I never meant to see you again. But I only passed by as a friend, yeah. All this time I stayed out of sight I started wondering why.“

“Alle Welt sucht nach ihren Wurzeln und vergisst darüber das Erblühen”, sagte Hauke Schill.

Dembowski nickte.


DIE ABGEHÄNGTEN

Miriam Wu bestellte einen veganen Cheese Cake mit frischen Feigen. Sie konnte der Qualität hier am Ende der Sonntagsstraße vertrauen. Dafür nahm sie die lange Reise mit der M13 gerne in Kauf. Viel mehr noch aber als an der Beschaffenheit des Cheese Cakes, war sie an Paula Hegedüs, der Besitzerin des Ladens im Szenekiez Friedrichshain interessiert.

Schon vor einiger Zeit nun war sie mit Schill gemeinsam in eine Wohnung in der Brüsseler Straße gezogen. Im tiefen Wedding hatte sie alles. Doch Hegedüs erforderte ihre volle Aufmerksamkeit.

„Der Wedding“, hatte sie zu Schill gesagt, „kommt.“ Doch dieser hatte nur die Augen verdreht. Schill hatte drüben im Gesundbrunnen gesehen, was nach dem Kommen kommt, und er konnte zumindest hier drauf verzichten. Samstags gingen Schill und Wu erst auf den Markt am Leopoldplatz, und an manchen Tagen runter zum Ufer, und an anderen in die Rehberge oder an Sommertagen für ein paar Absacker in die Pinte am Plötzensee. Sie waren am Rande der Stadt, und eigentlich war das alles, was sie sich für jetzt erhofft hatten.

Doch jetzt verlangte Wu am andere Ende der Stadt einen veganen Cheese Cake mit frischen Feigen. Dazu genehmigte sie sich einen fair gehandelten Kaffee. Aus den Lautsprechern verströmte Susanne Sundfør transzendentale Belanglosigkeiten. Wu fühlte sich warm. Wie immer, wenn sie hier war. Sie mochte es ja. Manchmal brachte sie ihren eigenen Beutel mit.

Dann ließ sie sich von Paula eine eigens für sie angefertigte Bärlauch-Quiche einpacken. Sie tat das gerne. Es ging um die Welt. Das war ihr ein Anliegen. Wenn wir uns alle zurücknehmen, dann rückt das Wir zurück in den Fokus, dachte sie, und setzte sich ins Fenster. Draußen tanzte jemand um eine Gruppe Touristen. Wu blätterte im neuesten DFL-Magazin, blickte hin und wieder zu Paula, die mal einen Kunden bediente, und mal in der Küche verschwand.

Wu ignorierte den Anrufer. Die Kombination aus Frankfurter Vorwahl und der Ziffernfolge 678 drehte ihr den Magen um. Das konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Jetzt, da sie mit Lotte Kestner in die Dunkelheit des Wintertages glitt, sich an ihrem fairen Kaffee festhielt und nur Augen für die Auslage des kleinen Cafés im romantischen Stil hatte. Für den Moment war das genug, um die Welt zu retten.

Wu wusste, dass sie dem Drängen der Frankfurter nicht nachgeben konnte. Es war schlichtweg unmöglich, sich in Luft aufzulösen. Obwohl Dembowski und Hagenberg-Scholz in den letzten Monaten darin einen verdammt guten Job gemacht hatten.

Doch die Situation war zu verfahren, doch die Einschläge waren nicht nur immer nähergekommen, sie hatten die Frankfurter direkt getroffen, ihnen den Boden unter den Beinen weggerissen. Sie mussten retten, was schon lange nicht mehr zu retten war.

Das ohnehin fragwürdige U20-Projekt hatte zu einer Eiszeit zwischen Frankfurt und Peking geführt, ja sogar für Verstimmungen zwischen den beiden Ländern gesorgt.

„Gegenseitiger Respekt ist der richtige Weg um seine Gäste zu behandeln,“ hatte das chinesische Außenministerium noch vor dem erst vorläufigen, dann endgültigen Ende der Testspielreihe offiziell verkündet, und intern klargemacht, was Respekt bedeutet. Aus Deutschland war keine Erwiderung gekommen.

Klar, Cai Zhenhua, dem Thomas Bach Chinas, der es in den 1980er-Jahren einmal auf eine schwedische Briefmarke geschafft hatte und jetzt zahlreichen chinesischen Sportverbänden vorstand, und Staatssekretär Hans-Georg Engelke hatten die Zusammenarbeit der Länder noch 2016 auf fünf Jahre ausgelegt.

Aber die „joint declaration of intent on football cooperation between the general administration of sport of the People’s Republic of China and the Federal Ministry of the Interior of the Federal Republic of Germany” war das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben war.

Wu musste lachen. Sie dachte an Punkt 4 des Abkommens und den darin vorgetragenen Wunsch den Kampf gegen Doping, Wetten und Match Fixing voranzutreiben.

Davon hatte sie danach nie wieder gehört. Sonst aber hatte sie wenig Grund, auch nur in Gedanken zu lachen. China war genervt von den Unzulänglichkeiten der Deutschen, vom dramatischen Verfall der Bundesliga, von den ständigen Aufenthalten deutscher Delegationen im Reich der Mitte. Sie hatten sich das Filetstück längst gesichert.

Der Rest — dieses Duckmäusertum, gepaart mit willkürlichen Verweisen auf Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipen, stets vorgetragen von dahergelaufenen Alleswissern ohne jede Erfahrung im echten Leben — machte nur noch überflüssige Arbeit. Es war an der Zeit, Ballast über Bord zu werfen.

In China interessierten sie sich nicht für irgendwelche Spiele zwischen Wolfsburg und Bremen, zwischen Köln und Hamburg, zwischen Leipzig und Schalke. Sie interessierten sich für ihren eigenen wirtschaftlichen Wohlstand, und für die, die dazu beitragen konnten. Doch der Erfolg war dem deutschen Spiel abhandengekommen, und damit auch der Respekt vor dieser Ausprägung des Fußballs.

Im Sommer 2018 würde Deutschland nicht mehr Weltmeister sein.

Wu fürchtete sich vor „The Red Card 2018“ und den dort veröffentlichten Zahlen. Irgendwann würde die umfassende Content-Strategie in den sozialen Medien ins Leere laufen und aus Seiferts 500 Millionen zukünftigen DFL-Fans schnell 500 Millionen verpasste Träume werden. Jeder Klick garantierte ein Euro, hatten sie gesagt. Bayern als Superklub würde vielleicht in Zukunft noch profitieren können, doch bereits der Dortmunder Schwellenklub seine Probleme bekommen. Über die restlichen 34 in der DFL versammelten Vereine brauchte man erst gar nicht zu reden.

Frankfurt war an den Klicks der Chinesen interessiert, und diese an Wissen, den Programmen des Generalsponsors des deutschen Technikwunders, der neuerdings direkt mit seinem Protoklub Hoffenheim kooperierte.

Sie wollten SAP, sie wollten die Datensätze, die es ihnen schon bald ermöglichen würden, nicht nur in der Trainingssteuerung, sondern auch auf dem Platz genaue Analysen über das aktuelle Leistungsvermögen der Spieler zu erstellen. China bildete seit einiger Zeit gute Wissenschaftler aus, ihnen fehlten nur die Daten. Diese wollten sie sich nun sichern. Und diese hatten sie sich gesichert.

Gute Wissenschaftler mit großen Datensätzen schlugen sehr gute Wissenschaftler mit kleinen Datensätzen. Der Fußball war hier nur PR-Mittel zum Zweck. Jede Technologie konnte auch abseits des Sports einer neuen Bedeutung zugeführt werden.

Es ging hier um die dritte Phase der KI-Revolution. Wu sah das. Frankfurt nicht. Dort gab es nur die Internationalisierung, dachte schon lange nicht mehr gesamtheitlich. Dazu musste man sich mit all den lärmenden Fans rumschlagen. Diese sahen ihren Sport gefährdet, von allen Seiten bedrängt. Frankfurt wollte ihnen diese Sorge nicht nehmen.

Fußball war ein Business Case geworden. Die Vereine wollten ihre Innovationen, ihren Technikeinsatz monetisieren. Neben den Ablösesummen produzierten einige Vereine in ihren Fortschrittswerkstätten maßkonfektionierte Angebote, sie nutzten den Sport als Vehikel für übergelagerte Interessen.

Wenngleich sich SAP und Frankfurt ebenfalls in Richtung Westküste der USA orientierten, so schien den Entwicklern der chinesische Ansatz näher als alles andere. Dort fanden sie die idealen Voraussetzungen. Die erhobenen Datensätze würden dem Staat gehören. Niemand würde sich dagegen erheben. Bald schon würden Sensoren in der CSL eingesetzt werden. Diese würden alles verändern. Frankfurt hoffte, diese Veränderungen nicht zu verpassen. Sie mussten dranbleiben. Wenigstens hier.

Während man in Deutschland von der kommenden digitalen Revolution sprach, der vagen Idee der Digitalisierung und dem Entstehungsprozess der Internationalisierung alles unterordnete, gab es in China kein Grund mehr von einer kommenden Revolution zu sprechen. Sie waren längst mittendrin. Die Internationalisierung konnte ihnen egal sein. Die Digitalisierung lief längst. Deutschland war abgehängt. China hatte das Geld, die staatlichen Mittel, Europa nur den Fußball. Und nicht einmal dort, sprachen sie mit einer Stimme.

In China ging alles. Darauf war man in Frankfurt neidisch.

Die Bundesliga hatte genug eigene Probleme, verlor den Anschluss, die Spannung, das Rennen um die Zuschauergunst, und sie verlor die Stimmung in den Stadien. Außerhalb war sie Schauplatz neuer Klassenkämpfe, sie war Testfeld für neue Überwachungs- und Repressionstechniken. Und wenn auch noch so viel Lärm um sie gemacht wurde: Die Bundesliga stand kurz vor dem Kollaps. Das war ihnen dort in Frankfurt durchaus bewusst.

In ihrer misslichen Lage sahen sie kaum noch einen Ausweg, sie rannten weiter Richtung Internationalisierung und waren doch auch dort nur die Abgehängten. In den anderen Ligen sorgte der Klub der Schurkenstaaten und der Verbund der Milliardäre für Aufregung, in Deutschland rieb man sich an Kind, an Hopp und einem Österreicher, dessen Unternehmen letztendlich wie alles österreichische dem Untergang geweiht war.

Manchmal hetzte jemand gegen die neuen Besitzer des Fußballs, gegen die Staatenbünde, die das Spiel nun kontrollierten. China, Katar, die VAE. Lupenreine Demokraten.

Aber Lösungen konnten Rummenigge, Hoeneß und Watzke nicht anbieten, sogar Leipzigs Mintzlaff wirkte hilflos. Ihm war bewusst, dass die Bullen einen aussichtslosen Kampf führten. Gegen Staaten konnte nicht einmal die Dosen anstinken.

Der Fußball war auf höchster Ebene längst Spielball geopolitischer Interessen geworden. Der DFB hatte es insofern erkannt, als dass er sich erst gar nicht auf einen Schlagabtausch einlassen wollte.

Gemeinsam mit der Region verscherbelten sie nun das letzte Tafelsilber.

China aber war nur einer der Player im Wettstreit um die Deutungshoheit im Weltfußball. Doch es blieb Deutschlands einziger Ansprechpartner.

Die neue Technologie würden ihnen nicht nur abseits des Platzes neue Möglichkeiten eröffnen, sondern auch auf dem Platz würden sie immer schnellere Erfolge erzielt werden. Der Staat förderte den Aufstieg, und es gab niemanden, der die Methoden hinterfragte. Es gab keine Gegenöffentlichkeit. Das war praktisch.

Deutschland war nur eines von vielen Sprungbrettern, andersrum sah das anders aus: Es gab nur ein China, nur einen zukünftigen KI-Riesen.

Wu war dieser Kreislauf klar.

Mehr Daten brachten mehr Erfolg, mehr Erfolg brachte mehr Geld und mehr Geld brachte bessere Wissenschaftler, bessere Technik und das war das. Für Deutschland aber fiel nur ein wenig Geld, und ein erleichterter Marktzugang ab. Das war nicht viel. Man hatte sich über den Tisch ziehen lassen.

Wu las noch einmal im Abkommen: „The Sides intend to exchange views on the scientific research as well as other matters of common concern.”

Das war der Schlüssel. China arbeitete weiter an der Zukunft. Bis 2030 wollten sie KI-Hub sein, und so würde es kommen. Hatten sie sich einmal einer Sache verschrieben, bissen sie sich fest.

Die Amerikaner verloren langsam den Anschluss, Deutschland hatte ihn nie gehabt. Teile der Technik mochte noch state of the art sein, doch dieses Wissen gaben die Frankfurter nur zu gerne her.

Sie würden nur noch Teilhaber, nicht mehr Innovationsführer sein. Egal, was Frankfurt nun unternehmen würde, China konnte man kaum noch beschwichtigen. Die Tibet-Fahne und der anschließende Abbruch der Testreihe war da nur ein willkommener Anlass für die Abkehr vom deutschen Markt, dachte Wu am Fenster sitzend. Der deutsche Markt hatte nichts mehr zu bieten.

Sie wählte die Frankfurter Nummer. Es gab eine Einladung für eine TV-Show. Wu sollte Dembowski vorschicken.

Genauer: Frankfurt brüllte: „Setzen Sie Dembowski da rein! Wenn wir die Weltmeisterschaft vergeigen, wird sich niemand mehr für Deutschland interessieren. Die Internationalisierung ist in Gefahr! Der Fußball ist in Gefahr. Wir müssen handeln! Den Rest schicke ich rüber.“

Wu verstand nicht. Dembowski? Der Typ, der seit Monaten abgetaucht war. Sie sprang auf, sie musste zu Dembowski kommen. Schill schien ihr ein guter Ausgangspunkt.

Wu entschwand in die einsetzende Nacht. Regen. Der ewige kalte Regen.

Sie zog ihre Jacke tief ins Gesicht. Ein paar besoffene Touristen zogen an ihr vorbei. Sie verabscheute diesen Teil der Stadt mit seinem ewigen Spring Break. Am Späti schnappte sie sich ein Schulle, ging die Gürtelstraße hoch bis zum S-Bahnhof Frankfurter Allee, genehmigte sich noch ein Schulle und stieg in die M13, die sich durch Plattenbauschluchten in Richtung Soldiner Kiez bewegte.

Wu sah Paula Hegedüs nicht, die im letzten Moment in die Tram gesprungen war.