Für große Heiterkeit im Bunker tief unter den VW-Werken war gesorgt. Ich hatte mich nach meinem Ausflug an die Oberfläche pünktlich zur Übertragung der Champions League wieder in meine Isolationskammer begeben. Dem Kaffeetrinker hatte ich es zu verdanken, dass ich von dieser Spielzeit zwar große Unterhaltung, aber nicht zwangsläufig auch großen Fußball erwartete.

Nur auf den FC Bayern war in dieser Sicht Verlass. Sie boten traditionell beides. Deswegen verwunderte mich die Leistung des deutschen Rekordmeisters keineswegs. Sie zerlegten Atletico Madrid und sorgten für den Lausbuben-Moment des Spieltags.

Ausgerechnet der knorrige Thomas Müller hatte sich nach einer unberechtigten Gelben Karte gegen ihn lauthals beschwert. Erst beim Schiedsrichter, dann, sich seiner Worte im leeren Stadion mehr als bewusst, ganz allgemein.

Müller hatte sich noch im Januar 2020 in einem Interview klar gegen die laute Form des Protests positioniert: „Wir müssen signalisieren, dass Schiedsrichter Fehler machen dürfen, ohne gleich eingestampft zu werden. Der Schiedsrichter rennt ja nach einem Fehlpass auch nicht dem Spieler nach und beleidigt ihn”, hatte der Ex-Nationalspieler gesagt und sich dennoch eine Hintertür offengelassen, denn „einen emotionalen, respektvollen Austausch zwischen Spieler und Schiedsrichter“ solle es ja immer noch geben.

In den Pandemie-Stadien ergaben sich nun ohnehin ganz andere Möglichkeiten. Über die vergangenen Monate hatte sich Thomas Müller bereits in einer für den Zuschauer bis dahin zumindest auf dem Platz unbekannten Rolle gezeigt. Müller nervte seine Gegenspieler, kommentierte alles und dirigierte nebenbei sein Team. Er war zum Coach auf dem Platz geworden und füllte diese Rolle mit Leidenschaft.

Die sich dann auch zeigte, als er den Gegner aus Madrid als „die größten Rabauken im europäischen Fußball“ bezeichnete. Ein Rabauke ist ein Schurke, ein Gauner, aber ein sympathischer. Einer, der es in seinem jugendlichen Leichtsinn mal etwas übertreibt, hier mal austeilt und da mal einsteckt. Er ist ein Rüpel ohne Respekt vor der Autorität, in diesem Fall also dem amtierenden Champions League-Sieger.

Das also sorgte für Heiterkeit im Isolations-Bunker, in dem ich mit einer frischen Schulle-Ladung in den nächsten Tagen auf das Ende der Pandemie warten wollte. Ich sah Thomas Müller und dachte dann an die größten Rabauken im deutschen Fußball: Union Berlin! Denen war es innerhalb weniger Wochen gelungen in den Rang eines Kult-Klubs aufzusteigen. Die Köpenicker, die von Hauke Schill wütend als Ortsvertretung der AfD bezeichnet wurden, suhlten sich in ihrer Opferrolle. Sie hatten sich von der Außenwelt abgeschottet und es sich in ihrer Wagenburg komfortabel eingerichtet. “Es sind nur Vorstadtkrokodile”, beschwichtigte ich dann, während JHS im Zoom-Call aus den USA die sofortige Zerstörung Köpenicks anordnete. Diese Wucht hatte er erst in den Staaten entwickelt. Ich hatte an ihr Gefallen gefunden, aber nun dachte ich wieder über Union nach.

Wer es nur wagte, sie für ihren Ideen zur Wiederzulassung der Fans, für ihre sinnlosen Testkicks vor Zuschauern, ihre Selbstsucht und ihre Ignoranz gegenüber der von der Liga formulierten Coronaregeln zu kritisieren, war direkt gegen sie und landete auf einer roten Liste.  Das sagte nicht unbedingt etwas über das Demokratieverständnis der Köpenicker, obwohl Hauke Schill das so sah, aber es zeugte auch nicht von der Solidarität und der Vorbildfunktion, die vom öffentlichen Wirken eines Fußballvereins im Jahre 2020 ausgehen sollte.

Die Unioner waren Rabauken, die bislang noch keine Gelbe Karte gesehen hatte. Andere Vereine waren nicht so glimpflich davongekommen. Die TSG aus Hoffenheim, deren Besitzer Dietmar Hopp immer noch keinen Impfstoff geliefert hatte, mussten vor Wochenfrist ohne Torjäger Kramaric antreteten. Der hatte sich, wie ein Teamkollege, auf einer Länderspielreise infiziert und musste die 0:1 Niederlage gegen den glücklichen BVB am Fernseher ansehen. Bei den Dortmundern hatte es Akanji erwischt, in Leipzig Haidara, bei den Bayern Gnabry, bei Hertha den Neuzugang Guendouzi, über dem Bunker in Wolfsburg Brekalo und auch die Bremer waren nicht verschont geblieben.

Der Liga-Coronacounter sprang täglich um. Daran, so dachte ich, würde sich auch in den nächsten Wochen nichts mehr ändern. Dazu langte ein Blick in die anderen Ligen, in denen der Umgang mit Infektionen bereits zum Alltag gehörte. In Deutschland war das noch neu, wieder einmal hing das Land der Entwicklung um ein paar Wochen nach. Was gut war, aber die Liga nun in einen von einer schadenfreudigen Öffentlichkeit begleiteten Lernprozess stürzen würde.

Die nächsten Wochen, da war mich mir sicher, würden die Zweifel an der Liga nur verstärken. Der Fußball stand mittlerweile weitestgehend isoliert da. Er war der letzte große Echtzeit-Unterhaltungsbetrieb der von den Pandemiewirren ablenkte. Jetzt aber tauchte er endgültig ein. Bald schon würde es nicht mehr um Rabauken, sondern wieder einmal um die unermessliche Gier des Spiels gehen.

Für den DID, so beschloss ich, galt es nun dagegen zu halten. Ich trank noch ein Schulle. Der Vorrat war aufgebraucht. Ich trat wieder an die Oberfläche. Es gab doch immer was zu tun.