Nach der mit “desolat” noch unzureichend beschriebenen Leistung der Dortmund Borussia beim Auswärtsspiel in Rom, streifte ich meinen Wintermantel über und spazierte in Richtung Mittellandkanal.  Die Schlöte leuchteten mir den Weg und bald saß ich an meiner Lieblingsstelle am Kanalausgang des Wolfsburger Bahnhofs, der zu unbedeutend war, um es in die Vice-Liste der hässlichsten Bahnhöfe Deutschlands zu schaffen.

Auf einem der Schiffe trank ein polnischer Kapitän sein Abendbrot. Ich prostete ihm zu, kramte in seiner Tasche und fand einen Jägermeister, den er neulich auf einer Werksbesichtigung hatte mitgehen lassen. „Ich trinke nur regional“, dachte ich, er Ermittler, während Lucien Favre in mein Ohr säuselte.

Wieder einmal waren die Borussen in einem Spiel einfach verschwunden. Favre, Diplomat, der er war, fand dafür die passenden Worte. „Viele Spieler waren gut, aber viele Spieler waren nicht gut.“ Dann philosophierte er vor sich hin. Sprach von denen, die nicht anwesend waren und denen, die nicht konnten, und über die er, wie im Falle Bürki, schon alles gesagt hatte.

Natürlich hatte Favre sich nie über Bürki geäußert, zumindest nicht in der Öffentlichkeit, die mit routinierter Aufregung über die Verfehlungen des Übungsleiters berichtete. Sportdirektor Michael Zorc war dies mittlerweile peinlich. Er schickte Sebastian Kehl vor, der in diesen Situationen durchaus hätte Profil gewinnen können. Doch seine Worte waren Sternstunden der Mittelmäßigkeit, sie verklangen in den dahingereichten Mikrofonen.

Kehl war das Kind einer Funktionärsgeneration, die bislang meist mit wohlformulierter Ambitionslosigkeit aufgefallen war. Ein paar Kilometer weiter, unter dem Bayer-Kreuz, trieb Simon Rolfes diese erst vor einigen Tagen auf die Spitze. Nach den Zielen in der diesjährigen Europa League befragt, erklärte der ehemalige Nationalspieler den Einzug in die KO-Phase zum Minimalziel. Natürlich nicht ohne den dringenden Hinweis auf die Stärke und Ziele der Gruppengegner.

Kontrolle statt Selbstbewusstsein. Doch wer immer alles kontrollieren will, dachte ich, kontrolliert am Ende gar nichts mehr. Im Labyrinth der ständigen Abwägung verschwand der Mut und mit ihm das Bewusstsein dafür, mit welchen Mitteln Ziele erreicht werden können.

In Dortmund stellt sich das Problem so da: Sportdirektor Michael Zorc war damit beschäftigt, sein Erbe zu ordnen. Sebastian Kehl verströmte den wenig erfolgsversprechenden Duft der Ambitionslosigkeit. Lucien Favre dachte an den schönen Fußball, den er immer hatte spielen lassen wollen und er dachte an die Idee davon. Diese hatte ihn bis nach Dortmund geführt, also bis an das Tor zu internationalen Klasse. Das aber blieb ihm und der Borussia verschlossen. Es war behaglich dort draußen vor dem Tor.

In dieser Tristesse verloren sich die Spieler auf dem Platz in schönster Regelmäßigkeit. Den besten unter ihnen würde ein Verein schon bald das Tor zu dieser internationalen Klasse öffnen. Dortmund war der Weg zum Schloss, nicht das Schloss selbst. Anderen genügte der Blick auf das Schloss. Weiter, das wussten sie, würden sie nie kommen.

Und was machte Aki Watzke? Der hatte sich der großen Politik verschrieben. Und da gab es genug zu tun. Meine Gedanken verließen das Olympiastadion in Rom und folgten Watzke.

Der hatte genug mit der Rettung des Fußballs in Zeiten der Pandemie zu tun. Er war eines der Gesichter für den Fußball, bei dem sich viele nicht mehr fragten, was er denn überhaupt falsch gemacht hat, sondern vielmehr, wann er letztmals etwas richtig gemacht hatte. Der Wind hatte sich in den Pandemie-Monaten gefährlich gedreht. Der Fußball war zu einem Symbol der Dekadenz verkommen.

Das hatte sich der Fußball mit seinen aberwitzigen Gehältern, mit seinem Größenwahn, mit seiner fortschreitenden Digitalisierung und Globalisierung, die, wie überall, mehr abhängte als mitnahm, mit seiner Allgegenwärtigkeit, die es einem erlaubte an jedem Ort der Welt innerhalb weniger Sekunden auf jede Spielsituation zu reagieren, und mit seinen Schikanen gegen das eigene Publikum selbst zuzuschreiben. Die Pandemie mit ihren emotionslosen, durchchoreographierten Angriffen ohne äußere Einflüsse hatten diesen Eindruck nur verstärkt.

Die Profis und die Vereine waren „die da oben“ und nicht mehr „wir“. Sie spielten in ihrer eigenen Welt, in ihre eigenen Stadien. Manchmal tauchten ein paar Fans auf, die den Bussen der Stars sehnsüchtig hinterher schauten. Doch auch die würde die Zeit vertreiben.

Die Fans hatten noch eine lose emotionale Bindung zu der Idee, die sie einst hatte zu Fans werden lassen. Doch diese Bindung war nicht mehr stark genug. Die Erinnerung verblich wie die Sitzschalen an den wenigen alten Spielorten der Liga. Auch diese würden verschwinden. Die große Zeit des Fußballs war vorerst vorbei. Aktuell erzählt er die Geschichte vom täglichen Sterben. Er hatte seine Leichtigkeit verloren.

„Viele Spieler waren gut, aber viele Spieler waren nicht gut“, sagte Lucien Favre also und ich nahm noch einen Schluck Jägermeister und stand auf.